Der wankelmütige Drahtseiltänzer
Ich bin ein Seiltänzer. Ein ziemlich schlechter sollte man vielleicht erwähnen. Ach was, eher beschissen. Entweder sie lachen über mich, oder sie verdrehen die Augen und gehen genervt weiter. Manche bleiben vielleicht stehen, weil sie wissen wollen wie viele Schritte ich diesmal schaffe bevor ich stürze. Aber das sind meistens nichts besonders viele. Mein Rekord ist Sechs.
Das liegt ganz einfach daran, dass mein toter Winkel in der goldenen Mitte liegt. Verschwommene Bilder flackern vor mir auf und manchmal schaffe ich es für kurze Zeit meine Augen zuzukneifen und hinzusehen. Und dann wird es mir wieder zu viel. Mein Magen krampft sich zusammen.
Ich habe gestern zu viel gegessen. Am liebsten würde ich alles wieder auskotzen, aber dann würde ich erst recht das Gleichgewicht verlieren.
Sie starren mich an, ich schwanke, das Gewicht meines stechenden Magens ist zu schwer, ich taumle und Falle.
Morgen. Morgen wird es besser. Das sage ich mir jeden Tag nachdem ich erneut gescheitert bin. Morgen.
Und dann stehe ich wieder da. Es klappt tatsächlich, eine Zeit lang laufe ich voran. Mein neuer Rekord ist Sieben. Das muss es sein! Das Mittel zum Sieg! Dann spüre ich wie mich meine Kräfte verlassen und ich erneut damit kämpfe auf den Beinen zu bleiben, mich auf die Mitte zu konzentrieren. Doch es ist zu spät. Die Mitte habe ich schon vor Stunden aus den Augen verloren, als ich gar nichts as. Mein Magen sollte nicht so schwer sein wie gestern, heute wollte ich eine Feder sein. Leicht, schwerelos. Und so falle ich viel zu leicht in die Tiefe.
Morgen, morgen esse ich einfach gesund, dann werde ich es bis zum Ende schaffen. Und Tatsächlich. Am nächsten Tag kann ich tanzen, ohne zu fallen. Ich zwinkere der begeisterten Menge zu. Ich schaffe es meine Augen zuzukneifen und mich auf die Bilder zu konzentrieren, ich zittere nur ein ganz klein wenig, aber das ist okay. Irgendwann verfliegt das schon. Aber ich fliege heute nicht. Ich laufe bis zum Ende. Die Menge ist begeistert, das erste Mal ernte ich Applaus.
Der Wankelmütige Drahtseiltänzer hat endlich die Mitte gefunden, heißt es.
Ich freue mich, aber ich bin so unendlich müde. Müde weil ich nun jeden Tag genauestens kontrollieren muss was ich zu mir nehme, um das perfekte Maß zu finden. Jetzt wo ich es einmal geschafft habe, kann ich sie nicht erneut enttäuschen, kann ich mich nicht erneut enttäuschen.
Und so geht es Woche um Woche, Monat um Monat. Ich steige auf. Ich bin nun ein bekannter Drahtseiltänzer und habe sogar Fans.
Die Mitte auf dem Drahtseil habe ich gefunden, aber als Ausgleich verliere ich sie überall anders. Ich bin beliebt, aber nicht geliebt. Ich verliere meine Freunde. Ich habe keine Kraft mich zu melden, bin von meinem Job zu ausgelaugt. Ich interpretiere zu viel in ihre Taten, bin verletzbar, fühle mich von allem angegriffen und verurteile ohne verurteilt werden zu wollen. Ich bin müde. Der Drahtseilakt laugt mich aus. Jeden Tag das perfekte Maß an Nahrung. Das ist gesund, das sagen mir mein Arzt und mein Therapeut. Meine Eltern freuen sich wenn sie mich sehen. Plötzlich heißt es nicht mehr: Iss doch mehr Kind, du bist nur Knochen. Möchtest du das wirklich noch essen, du hattest doch schon genug? Plötzlich sind sie stolz auf mich, doch ich kann es nicht sein. Ich spüre die Verluste. Spüre wie ich mich selbst erneut verliere. Ich fresse und ich faste, fresse und faste, fresse und faste. Und plötzlich werde ich wieder nur der Clown auf dem Drahtseil, falle hinab weil ich die Mitte verliere. Ich gebe es auf.
Ich sehe nicht krank aus, überfressen und Hungern gleicht sich aus. Meine Familie ist stolz. Aber ich bin krank. Jeden Tag verliere ich mein Gleichgewicht, kämpfe um mein Traumgewicht.
Ich bin müde, viel zu müde um gebrochene Freundschaften wieder zu richten. Zu müde um morgens aus dem Bett zu kommen. Zu müde zum kämpfen. Ich kann nur fliegen oder Fallen, niemals stehen und laufen. Es geht nur auf und ab, niemals geradeaus.
Ich müsste mir eigentlich einen neuen Job suchen, den alten sollte ich einfach aufgeben. Drahtseiltänzer! Wer will das schon? So ein lächerlicher Versuch. Aber mir wird klar, es ist mehr als das. Ich werde mein ganzes Leben auf einem Drahtseil stehen, egal wofür ich mich entscheide.
Manchmal werde ich schwanken und fallen, manchmal für lange Zeit in der Mitte laufen. Aber ich muss jedes Mal erneut hinaufklettern und es versuchen. Irgendwann wird es leichter werden - aber los werde ich es niemals.
Denn das Essen ist mein ganz persönlicher Drahtseilakt.