1.Kapitel - De Omnibus Dubitandum - Part 1

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DE OMNIBUS DUBITANDUM

Das Licht des Vollmondes fiel durch das Fenster und warf lange Schatten auf das dunkle Parkett. Dunkle Gestalten huschten durch das Zimmer und hinterließen unangenehme Stille. In einer der Ecken stand eine schemenhafte Silhouette, deren silbrige Augen in der Dunkelheit schimmerten und glänzten wie ein roher Diamant. Sanfte dunkelrote Wellen umrahmten das blasse Gesicht und schenkten ihm etwas wildes und ungestümes . Plötzlich zerriss ein schrilles Geräusch die angenehme Stille und ließ die zierliche Gestalt zusammenzucken. Eine kleine Hand griff nach einem länglichen Gegenstand und hielt ihn sich schützend vor die Brust. Das Fenster begann sich zu bewegen und schiefe Töne von sich zu geben, als es von zwei dünnen Händen gewaltvoll zur Seite geschoben wurde. Augenblicklich wurde der Raum von eisiger Nachtluft erfüllt und ließ das Mädchen in der Ecke zittern, wobei ihr Blick noch immer starr auf das, einen Spalt weit geöffnete, Fenster gerichtet war. Ihre freie Hand ballte sich zu einer drohenden Hand.

»Tera? «, flüsterte jemand in der Dunkelheit, wobei in der Stimme ein leichter Hauch von Angst mitschwang. Das Mädchen fasste ihren Mut und holte mit dem länglichen Gegenstand in ihrer linken Hand aus. Anfangs konnte sie lediglich das Zischen der vorbeiziehenden Luft wahrnehmen, doch als sie gerade dachte, sie hätte ihr Ziel verfehlt erklang ein schmerzerfüllter Schrei direkt vor ihr.

»Wer ist da?«, fragte Tera leise und hielt die Fäuste drohend in die Höhe. Der Schrei des Unbekannten hatte sich in ein dumpfes Wimmern gewandelt und schien sich von ihr zu entfernen.

»Andrew Jackson.«, gab die fremde Person stöhnend zur Antwort und stieß einen weiteren leisen Schmerzensschrei aus. Das Blut in Teras Adern gefror schlagartig und gleichzeitig stieg unangenehme Hitze in ihr auf, als ihr bewusst wurde, wen sie getroffen hatte. Sie stieß einen hohen Schrei aus und fasste sich, bestürzt über ihr Handeln, an den Kopf.

»Andrew? Was tust du hier?«, zischte sie und griff mit der linken Hand blindlings nach dem Jungen.

»Ich...ich dachte ich soll dich abholen. Wir haben ausgemacht, dass ich mich um Mitternacht in dein Zimmer schleiche und dich wecke. Ich bin hier.«, antwortete Andrew unter Schmerzen und umschloss sanft Teras Handgelenk. Ruhig setzte sie sich vor ihn und wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Schuldgefühle nagten an ihr und ließen die unangenehme Hitze weiterhin nicht abklingen. Sie streckte die Arme nach ihm aus und schlang die Arme fest um seinen Oberkörper.

»Happy Birthday, Tera.«, flüsterte er ihr in das Ohr und gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. Tera schmiegte sich eng an seine Brust und atmete den vertrauten Duft von Fichtennadeln und Apfel ein. Sie mochte es, wenn sie mit ihm allein war; er war wie ein Bruder für sie, auch wenn sie wusste, dass sie nie einen Bruder hatte und auch nie einen haben würde. Ihre Eltern waren verschwunden, noch ehe sie alt genug war um ihre Gesichter für immer in ihrem Kopf zu verwahren und hatten sie zurückgelassen. Tera hatte schon lange keinen Gedanken mehr an ihre Eltern verschwendet, doch Andrew erinnerte sie zunehmend daran, wie sehr sie doch einen Bruder hätte. Aber ich habe doch einen, redete sie sich ein und presste ihre Handfläche gegen seine Brust. Ich habe ihn.

»Du musst mir nicht gratulieren, Andrew. Es erinnert mich nur noch mehr daran, dass sie sich jetzt schon seit 16 Jahren nicht mehr gemeldet haben. Ich bezweifle, dass sie mich überhaupt jemals geliebt haben. Ich meine, warum sonst hätten sie mich im Stich gelassen?«, murmelte Tera und schloss die Augen. Leise rollten kleine Tränen über ihre Wangen und sammelten sich auf Andrews Shirt.

»Vielleicht, aber ziehe auch in Erwägung, dass sie sich vielleicht auch einfach nicht um dich kümmern konnten. Außerdem hast du ja noch mich und ich fühle mich immer wieder dazu verpflichtet dich in den Arm zu nehmen und dich an meiner Schulter weinen zu lassen. Außerdem werde ich wahrscheinlich nie deinen Geburtstag vergessen, Tera.«, erwiderte Andrew und zog das Mädchen mehr in seine Arme.

»Vielleicht.«, nuschelte sie in seine Schulter und wischte sich die Tränen verstohlen aus dem Gesicht.

»Komm mit. Ich möchte dir etwas zeigen.«, sagte er und löste sich behutsam aus der Umarmung, die ihn an Ort und Stelle verharren ließ. Tera setzte sich auf und betrachtete Andrew ruhig. Seine grünen Augen glitzerten verstohlen, während er ihre Hand nahm und ihr auf die Beine half. Noch etwas unbeholfen stand Tera vor ihm und betrachtete ihn. Im Schein des Mondlichts wirkte sein schwarzes Haar bläulich und die goldgebräunte Haut glitzerte. Sein Gesicht erschien kantiger und die hohen Wangenknochen warfen dunkle Schatten auf seine Haut.

»Wohin willst du mich bringen?«, murmelte Tera und fuhr sich mit zittrigen Händen durch das rote Haar.

»Lass dich überraschen.«, gab er zur Antwort, wand sich um und öffnete das Fenster, wobei er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Hinterkopf fasste. Er stellte einen seiner Füße auf den Fenstersims und wand sich, den Fensterriemen umklammernd, hinauf, bis ihn und den freien Fall kaum noch ein Zentimeter trennte.

»Komm.«, damit ließ er sich fallen. Just in dem Moment, in dem er sprang, griff Tera nach seiner Hand, verfehlte diese jedoch um Haaresbreite. Nackte Angst breitete sich in augenblicklich in ihr aus und drängte sie auf Anhieb dazu sich über den Sims zu beugen und nach Andrew zu sehen. Ihrem Instinkt folgend tat sie einen Schritt und sah hinab. Sie konnte eine schwarze Gestalt ausmachen, wobei sie nicht wusste, ob es Andrew war und kletterte von der Angst, die sie noch immer empfand, benebelt auf den Fenstersims. Eisiger Wind peitschte ihr ins Gesicht und wirbelte ihr Haar auf. Einzelne Strähnen versperrten ihr die Sicht und ließ sie unsicher taumeln. Verzweifelt nach Gleichgewicht suchend, begann das Blut in ihren Adern zu gefrieren und die Angst zu wachsen. Ihr war nicht bewusst, was passieren würde, wenn sie fallen und auf dem Asphalt zerbersten würde wie eine zierliche Porzellanfigur.Hilfesuchend versuchte sie irgendwo Halt zu suchen, doch mit einem Mal spürte sie keinen Boden mehr unter den Füßen. Tera begann zu schreien und wirbelte mit den Händen durch die vorbeirauschende Luft. Trotz der Kälte und der Tatsache, dass sie mehrere Stockwerke tief fiel, verspürte sie keinerlei Angst mehr, doch stattdessen fühlte sie sich aufgeweckt und schrie aus vollem Leibe. Sie schrie um Hilfe, während die Dunkelheit und das Leben an ihr vorbeirauschte, wie Wasser einen Hang hinab. Sie schloss die Augen und presste die Arme fest an ihren Körper, in der dumpfen Hoffnung so den Schmerz ertragen zu können, als sie augenblicklich etwas hartes unter ihren Füßen spürte. Ein höllischer Schmerz durchzuckte ihre Beine und breitete sich in ihrem gesamten Körper aus. Tera öffnete ihren Mund, doch die Schreie wollten nicht über ihre Lippen kommen.

»Tera!«, rief jemand und im nächsten Moment schloss sich kräftige Arme um ihren brennenden Körper.

»Andrew.«, murmelte sie und verzog das Gesicht zu einem gleichgültigen Lächeln. Sie stellte sich unter Schmerzen auf ihre Fußballen und küsste Andrew sanft auf die Stirn. Ein liebevolles Lächeln umspielte seine vollen Lippen und erhellte selbst Teras Miene.

»Folge mir. Wir haben nicht mehr lange Zeit.«, flüsterte er ihr ins Ohr und führt sie schnellen Schrittes die menschenleere Straße entlang. Lediglich das Licht der wenigen Straßenlaternen, die den weg säumten, erhellten ihnen den finsteren Weg, der so vieles beinhaltete. 

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