Short Stories (multilingual)

Die wahre Länge einer Mathestunde (german)

Die Luft war stickig, die Minuten schlichen nur so dahin, die Zeit schien stillzustehen. Die Stimme der Mathelehrerin klang eintönig, sie schien immer und immer wieder das gleiche zu wiederholen. 

Ich fixierte einen Punkt an der Wand und schenkte ihm meine volle Aufmerksamkeit. Die Lehrerin nannte meinen Namen, doch ich war wie in Trance, erstarrt, gefangen in dieser Starre.

In diesem Moment gab es nur mich - und diesen Punkt.Die Welt um mich herum bestand lediglich aus verschwommenen Farben, mein Kopf war leer, mein Gehör schien nicht zu funktionieren.

Meine Banknachbarin rüttelte an meinem Arm, riss mich aus meiner Trance. Die Zeit schien stillzustehen (dabei verging sie doch eh schon langsamer als irgendetwas anderes), dann stellten sich Geräusche und Bilder wieder ein, mein Kopf füllte sich wieder mit all den wichtigen (und unwichtigen) Dingen, mit denen ich mir zuvor das Hirn zermatert hatte.

Während das Donnerwetter der Lehrerin über mir seinen Höhepunkt erreichte, wagte ich einen Blick auf die Uhr. Erst fünf Minuten waren vergangen, seit die ätzende Frau mit ihrem geschmacklosen Jackett das Klassenzimmer betreten hatte. 

Erst fünf Minuten?! Das konnte doch nicht wahr sein! Die Zeit schien wahrlich nicht auf meiner Seite zu sein. Seufzend richtete ich meinen Blick wieder nach vorne auf die Tafel, die bereits mit irgendwelchen Gleichungen überfüllt war, von denen ich genauso viel verstand, als stünden dort vorne keine Zahlen, Buchstaben und Rechenzeichen, sondern chinesische Schriftzeichen (an dieser Stelle sei erwähnt, dass ich mit absolut reinem Gewissen sagen kann, dass ich kein einziges solches Schriftzeichen kenne und auch die Sprache nicht beherrsche). 

Auf den Gesichtern meiner Mitschüler spiegelte sich mein Unwissen und das leise Beten, dass die Stunde doch bald auf wundersame Weise vorrüber sein möge wieder, doch sämtliche Gebete blieben unerhört und jede Minute schien sich zu Stunden auszudehnen...