Nach ein paar Minuten, in denen ich erstarrt auf meinem Stuhl gesessen hatte, sah ich mich um, und bemerkte das Chaos in der kleinen Küche. Da ich ja immerhin gegessen hatte, ohne irgendwie eine Hilfe gewesen zu sein, machte ich mich an den Abwasch. Über dem Spülbecken war ein Fenster, mit Blick auf das Nachbargebäude. Geschirr, Töpfe und Pfannen waren auf offenen Regalen gestapelt und überall, wo ein paar Zentimeter Platz waren, hatte Meghan eine Pflanze hingestellt. Die Küche war klein, eng, aber unglaublich gemütlich. Die WG bestand sonst nur noch aus einem kleinen Badezimmer und unseren drei Zimmern, kein Wohnzimmer zur gemeinsamen Nutzung. Deshalb war auch hier ein kleiner Tisch mit drei Stühlen reingequetscht worden.
Als das Chaos endlich soweit beseitigt war – was extra lang gedauert hatte, weil ich bislang so wenig Zeit hier verbracht hatte, dass ich quasi bei nichts wusste, wo es hingehörte – ging ich in mein Zimmer. Mittlerweile war 16 Uhr und es dämmerte bereits ein wenig. Ich legte mich auf mein Bett und starrte wieder einmal an die Decke.
Wenn es stimmte, dass man Löcher in die Decke starren konnte, war ich auf dem besten Weg dahin.
Ich musste noch zu Ontario. Aber zum ersten Mal, seit ich ihn hatte, wollte ich nicht. Was nicht an ihm lag, sondern am Stall. Ich wollte nicht Finn treffen, oder Sara oder eine der anderen Personen, die in dem Reiterstübchen saßen, als ich meinen dramatischen Abgang gemacht hatte. Ich presste mir das Kissen aufs Gesicht und ließ einen Schrei der Verzweiflung, des Schmerzes und der Wut raus. Wie musste es sein, wenn ich einfach in den Stall ging, ohne mir Gedanken zu machen, wen ich treffen würde, wie es ablaufen würde oder ob ich mich blamierte?
Im Moment war mir einfach alles zu viel. Viel zu viel. Ich wusste, dass es mir gut tun würde, was mit Ontario zu machen, aber ich konnte einfach nicht in den Stall. Ich brauchte den restlichen Tag für mich. Ich wusste, Ontario war versorgt. Und er würde vermutlich nicht einmal merken, dass ich heute nicht kam. Und wenn doch, würde er sich über den freien Tag freuen.
War es egoistisch, wenn ich nicht in den Stall gehen würde? Ich war jeden Tag im Stall. Egal, wie es mir ging. Weil es mir sonst immer half. Aber ich wusste, dass es das heute nicht tun würde.
Ich würde heute nicht in den Stall fahren.
Jetzt, da die Entscheidung getroffen war, fühlte ich mich merkwürdig erleichtert. Der Gedanke an den Stall hatte mir wirklich Magenschmerzen beschert. Ich drehte mich zur Seite und nahm meinem Laptop. Ich wollte nicht mehr denken und da half nichts besser als den restlichen Tag Suits zu binge-watchen.
Am nächsten Tag hatte ich keine Vorlesung. Und auch keine Motivation, in den Stall zu gehen. Ich war um 5 Uhr aufgewacht und seitdem starrte ich ungefähr alle 10 Sekunden auf mein Handy, in der Hoffnung, dass es ein paar Stunden später war. Funktionierte leider nicht.
Irgendwann machte ich dann wieder Netflix an und machte dort weiter, wo ich gestern Abend aufgehört hatte. Vormittags, als mein Magen angefangen hatte zu knurren, frühstückte ich. Dann lss ich ein Buch, bis ich wieder Hunger hatte.
So ging es bis abends. Und ich hatte den Tag geschafft, ohne mich mit jemanden zu unterhalten oder über meine Situation, meine Panikattacken, Meghan, Finn, die Uni oder was sonst noch so falsch lief, nachzudenken. Ich würde den Tag erfolgreich nennen, wenn ich nicht das Gefühl gehabt hätte, kilometertief in einem Loch zu stecken. Was sich vor allem dadurch zeigte, dass ich einen zweiten Tag in Folge nicht im Stall gewesen war.
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Donnerstag war ich wieder um 5 Uhr wach. Ich schlief in letzter Zeit schlecht. Nie länger als ein paar Stunden und dann war ich in aller Frühe wieder wach. Heute Morgen verließ ich aber mein Bett tatsächlich auch. Ich hatte beschlossen, einfach so früh wie möglich in den Stall zu fahren. Heute musste ich wieder. Sonst würde mich mein schlechtes Gewissen umbringen. Und ich würde jetzt direkt gehen. Dann traf ich hoffentlich niemanden.
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runaway girl
RomanceDie Geschichte einer jungen Frau, die eigentlich so viel will, aber vor allem Angst hat. Nach 19 Jahren Kälte im Haus meiner Eltern habe ich es endlich geschafft: ich ziehe zum Studium ans andere Ende Deutschlands. Das einzige, was ich mitnehmen wil...