"Niemand wusste, was sich hinter der Mauer befand und diejenigen, die sie überquerten und es herausfanden, kehrten nie wieder zurück."
- unbekannt -
In den folgenden Wochen wurde es jeden Tag kälter. Als ich eines Tages plötzlich „1. Dezember" auf das Blatt Papier schrieb, auf dem ich meine Notizen machte, fragte ich mich, wo die Zeit hin war.
Ich kam mehr und mehr in Edenheim an. Ich lernte, auf welche Vorlesungen ich mich freute, auf welche weniger, bei welchen ich aufpassen musste, bei welchen nicht. Ich lernte die praktischen Seminare lieben, und malte und zeichnete so viel wie selten zuvor in meinem Leben. In der zweiten Uni-Woche hatte ich ein BWL-Modul abgewählt und stattdessen noch ein Seminar zu Fotografie dazu genommen. Mittlerweile vermutete ich, dass ich in diesem Semester einfach nur Kurse belegte, die ich auch in der Volkshochschule hätte machen können, anstatt auch theoretische Dinge zu lernen, aber ich hatte Spaß. Die letzten Jahre in Hamburg hatte ich in einem solchen Kokon gelebt, bis ich irgendwann selbst nicht mehr gewusst hatte, wer ich war, was ich mochte und was nicht.
Ontario fühlte sich im Stall jeden Tag wohler und ich hatte das Gefühl, dass er in der neuen Herde glücklicher war als in unserem früheren Stall.
In der WG war es nach wie vor ruhig. Denn auch wenn ich langsam offener und zufriedener wurde, war ich immer noch ich: Alex mit der sozialen Phobie.
Mit Meghan verband mich trotz allem langsam eine Freundschaft. Sie bot mir regelmäßig auf subtile (oder auch nicht so subtile) Art und Weise an, mit ihr über die Dinge zu sprechen, die mich beschäftigten. Ich ging nie darauf ein, aber geriet auch nicht mehr so oft in Panik.
Manchmal lag ich nachts in meinem Bett und fragte mich, wie das alles so gekommen war. Jahrelang hatte ich diese Mauern um mich herum aufgerichtet. Stein für Stein hatte ich eine massive Wand rund herum um mich gebaut. Und nie hatte jemand auch nur versucht, diese Wand einzureißen. Und dann kam Meghan und riss Stein für Stein die Mauer ein, so schnell, dass ich kaum hinterherkam, sie wieder aufzubauen.
So kam es auch, dass ich heute mit Meghan in einem kleinen Café saß, eine heiße Schokolade vor mir, und in den besten Brownie biss, den ich jemals gegessen hatte. Wir aßen schweigend, denn auch wenn ich mittlerweile gut mit Meghans Anwesenheit zurecht kam, fielen mir Gespräche immer noch schwierig. Vor allem in dieser Umgebung, mit den ganzen Menschen um mich herum. Es gab zwar nur eine Handvoll Tische, aber viel To-Go-Geschäft.
Als ich den letzten Krümel von meinem Teller aufgekratzt hatte, vibrierte mein Handy.
Finn, 14:32 Uhr:
Hey! Hast du Lust, mal wieder ausreiten zu gehen?Alex, 14:33 Uhr:
Gerne. Freitag soll es nicht regnen.
Finn, 14:33 Uhr:
14 Uhr? Vorher muss ich arbeiten.
Alex, 14:34 Uhr:
Perfekt.Ich hob den Kopf und begegnete Meghans zusammen gekniffenen Augen.
„Wenn Nadira mal wieder mit einem verklärten Grinsen auf ihr Handy schaut, ist das normal. Aber dich habe ich erstens noch nicht sonderlich viel lächeln sehen und vor allem nicht, wenn du auf dein Handy schaust. Also, raus damit: Mit wem schreibst du?"
Ich starrte sie für ungefähr fünf Sekunden an, dann sagte ich: „Ich grinse überhaupt nicht verklärt."
„Und ob du das tust. Ist es der Pferde-Typ? Wie hieß der gleich? Flo?"
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runaway girl
RomantizmDie Geschichte einer jungen Frau, die eigentlich so viel will, aber vor allem Angst hat. Nach 19 Jahren Kälte im Haus meiner Eltern habe ich es endlich geschafft: ich ziehe zum Studium ans andere Ende Deutschlands. Das einzige, was ich mitnehmen wil...