Rheingold - Anthologie II

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I, Tanz statt Trübsal:

Leicht wehmütig sah sie drein, seine Zwergenkönigin. Dabei hatte sie sich vorhin, als ihr Cerberus das Buffett abgeräumt hatte, noch köstlich amüsiert. Er hatte sie außerdem mit dem ein oder anderen Glas Champagner in der Hand gesehen. Woher also der plötzliche Trübsinn? Sollte er sie fragen? Nein, lieber erst observieren.

Da saß also Alberich am Tisch und tippte gelangweilt gegen ihr leeres Glas. Wotan der treue Zeitgenosse hatte seiner Herrin den Kopf auf die Knie gelegt und winselte leise. War ihm wohl fad - kein Wunder, denn es gab keinen Braten mehr, den er hätte fressen können. Boernes Blick fiel auf die Stilettos seiner Assistentin, die sie ein paar Zentimeter größer machten als sonst. Die Spitzen wippten kaum merklich zum Takt der Musik.

Ach, war es das? Alberich war ja durchaus musikalisch. Des Öfteren diskutierten sie Wagner, Verdi und Konsorten. Er wusste auch, dass sie von seinem Klavierspiel recht begeistert war. Und vorhin hatte sie doch ziemlich heiter im Takt der Musik neben ihm auf der Stelle getänzelt. 

Na, wenn das so war, dann wollte er mal nicht so sein. Die Band hatte zu dieser späten Stunde sowieso auf ruhigere, sogar etwas klassisch-angehauchte Musik gewechselt - das kam ihm ganz gelegen. Boerne verließ die Ecke, in der er bis vorhin noch die mittlerweile sturzbesoffene Sandkastennatter beobachtet hatte, und durchquerte den Raum. Thiel war ohnehin nicht mehr da und Frau Staatsanwältin musste sich wohl nach draußen zum Rauchen verzogen haben, nachdem einige Gäste die gepuderten Nasen gerümpft, ja manche sie sogar auf die störende Qualmerei hingewiesen hatten. Vor Alberich blieb Boerne stehen und räusperte sich vernehmlich. 

"Chef?" Während seine Assistentin ihn fragend ansah, schien ihr Hund schon verstanden zu haben. Wotan zog den Kopf von ihrem Schoß, dackelte davon und legte sich an einen leeren Platz vors Fenster. Kluges Tier.

Boerne beugte sich leicht vor und hielt ihr seine Hand hin. "Darf ich bitten?"

Er war kurz unsicher gewesen, ob er sich zu großen Mutes bediente - trotz einiger Jahre Zusammenarbeit fiel es ihm ab und an sehr schwer sie zu durchschauen. Vielleicht hatte er zu viel in ihre Körpersprache und Mimik interpretiert. Aber, als Alberichs triste Visage einem breiten Lächeln wich, war ihm sofort klar, dass dem nicht so war.


***


II, Eiskristall:

Selten war es Anfang Dezember schon so kalt gewesen wie dieses Jahr. Geschneit hatte es auch dermaßen viel, dass man meinen konnte, eine Eiszeit stünde bevor.  Die Wetterdienste warnten vor Glatteis und dennoch hatte sich das Team auf dem Weihnachtsmarkt vor der Lambertikirche eingefunden, um am Glühweinstand ihres Vertrauens die Lösung des letzten Falls zu zelebrieren. Ein Dreifachmord so kurz vor Weihnachten war keine leichte Angelegenheit - vor allem bei dürftiger Beweislage. Aber dennoch hatte Thiel mit Schraders und Boernes Hilfe den Fall aufklären können. Als Dank spendierte die Staatsanwältin dem ganzen Team heute einen Glühwein  - den besten Münsters, laut ihr.

Da hatte sie nicht unrecht. Das Heißgetränk schmeckte herrlich und wärmte zumindest innerlich. Trotzdem fröstelte Silke. Ihre Winterjacke war offenbar nicht dick genug, um den sibirischen Temperaturen zu trotzen. Da half auch der Wollschal um ihren Hals nicht. Sie unterdrückte ein Zittern, als sie eine kalte Brise umhüllte und ihr Schneeflocken auf die Wange blies. 

Neben den weißen Eiskristallen war da plötzlich eine Hand auf ihrer Wange. Ihr Chef war hinter sie getreten, sodass sie nun in seinem Windschatten stand, und wischte ihr mit seiner angenehm warmen Hand die Flocken von der Wange. Unwillkürlich musste sie lächeln. Manchmal konnte Boerne wirklich charmant sein. 

Als hätte er ihre Gedanken lesen können, toppte er das ganze jetzt noch. Und zwar, indem er seinen dicken Kaschmirmantel öffnete, noch näher an sie trat und sie bestmöglich in den Stoff hüllte. Sie standen Rücken an Bauch. Silke war auf einmal ziemlich warm. Und das lag sicher nicht nur am Kaschmir.


***


III, Stumm:

Manchmal sah sie ihn noch. Diesen seltsamen Ausdruck in seinen Augen, wenn er meinte, er wäre allein. Dann saß er mit hängenden Schultern im Büro und starrte ins Nichts. Seine Miene schien wächsern, der Körper völlig versteinert. Erschreckend leblos für einen eigentlich sehr energetischen, aktiven Menschen. Aber das war alles nichts gegen seinen Blick. Die Augen leer, tot. Suchend, fürchterlich hilflos sah er drein. Was suchte er? Wonach suchte er? Sie hatte ihn nie gefragt.

Aber, als sie eines Tages einfach nicht mehr tatenlos zusehen konnte, kurzerhand in sein Büro getreten war und ihn fest umarmt hatte, hatte sie es gewusst. 

Er suchte Halt. Und er suchte sie.


***


IV, Touchè:

"Ich glaub nicht, dass der sich selbst umgebracht hat, Chef. Das wär doch dumm."

"Dumm?" wiederholte er und sah von der Leiche auf. "Also, Alberich... für so einen kleingewachsenen Menschen haben Sie eine ganz schön hohe Meinung."

Sie zuckte die Schultern. "Und dafür, dass Sie so groß sind, haben Sie einen sehr eingeschränkten Horizont. Das war nie im Leben Suizid!"

"Wenigstens zeugt mein vertikales Sichtfeld von Größe! Kann man ja von Ihrem nicht behaupten..."

Sie reichte ihm das Skalpell. "Ach, darum beneide ich Sie gar nicht. Von hier unten kommt Ihr riesiges Ego ohnehin viel besser zur Geltung."


***


V, Wagner und der Wandel:

Es war wie immer und doch anders. Nachdem Boerne nach zwei Wochen endlich aus dem Krankenhaus entlassen worden war, stand er nun seit knapp einer Woche wieder ihr gegenüber am Obduktionstisch. Es schien wie immer: Wagner schallte aus seinem Büro, dazu ihr täglicher Schlagabtausch über die Leichen hinweg, später Kaffee. 

Aber wie immer war es dann doch nicht ganz: viel öfter als früher ertönte Wagners "Rheingold", gar nicht mehr so oft "Männerlist größer als Frauenlist" oder "Der fliegende Holländer" - Boerne war öfter hier, verzichtete viel mehr auf die Eskapaden mit Thiel, saß manchmal einfach nur im Büro und beobachtete sie bei der Arbeit... der Schlagabtausch hatte zwar nicht an Biss verloren, aber schien sich in eine völlig neue Richtung zu bewegen - sie gingen sanfter miteinander um, warfen sich zwischendurch liebevolle Blicke zu... wenn die Kaffeetassen leer waren, dann saßen sie trotzdem noch ein paar Minuten zusammen statt von Leiche zu Leiche zu hetzen - manchmal brach seine Fassade ein; immer dann erzählte er ihr vom Limbus, sprach über seine Gefühle und sie irgendwann auch über ihre.

Die wenigen Tage, die er mehr als Geist und sie mehr als Schatten ihrerselbst durchlebt hatten, hatten sie gezeichnet, hatten sie verändert. Denn das einzig Beständige im Leben war der Wandel... und Wagner.

RheingoldWhere stories live. Discover now