Rheingold - Anthologie III

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I, Haltestelle:

(inspiriert durch eine Idee von Chepseh auf Tumblr)

"Vier Minuten und siebzehn Sekunden."

Silke sah zu ihrem Chef, der seit einiger Zeit die Haltestelle auf- und abmarschierte. Sie für ihren Teil saß auf der Bank und genoss die Sonne, die ihr ins Gesicht schien. Münster Mitte März war zu schön, um griesgrämig zu sein und sich über verspätete Busse zu ärgern. "Vielleicht gab's ja einen Stau", sagte sie dennoch.

Boerne blieb stehen und bedachte sie mit seinem typischen jetzt-reden-Sie-doch-keinen-Unsinn Blick. "Stau, ach was! Sie kennen doch die Busfahrer heutzutage!"

Silke schnaubte. "Ja. Und ich kenn die Rechtsmediziner heutzutage."

"Vorsicht, da gehören Sie selber dazu."

"Rechtsmedizinerin", erinnerte sie ihn.

Boerne zog beinahe exzessiv die Brauen hoch. "Ach? Hat nun die Emanzipationsbewegung auch bei uns Einzug erhalten?"

"Schon lange. Jetzt sagen Sie nicht, Sie hätten das nicht bemerkt, Chef."

"Doch. Leider... Chefin."

"Oha. Ganz neue Töne."

"Gewöhnen Sie sich nicht dran", meinte Boerne schlicht und ließ sich neben ihr auf der Bank nieder. Erneut blickte er auf seine Armbanduhr. Protziges Teil und doch schlicht. Kein Megateil, aber man sah, dass die Uhr wertig war. "Wo bleibt denn jetzt der Bus? Wir sind schon bei fünf Minuten und zwei Sekunden."

"Und bei wie vielen Millisekunden?"

"Weiß ich nicht. Kleine Maßeinheiten sind ja sowieso Ihr Fachgebiet."

"Eh klar. So, Herr Professor, wenn Sie den Blick jetzt mal von den großen Zahlen in die Ferne richten würden... da kommt der Bus."


***


II, Ein Tanz kommt selten allein:

"Wo haben Sie so tanzen gelernt?"

Silke sah auf. "Hm?"

"Wo Sie so gut Tangotanzen gelernt haben", wiederholte Boerne.

Aha. Nach der Tanzeinlage vorhin musste er das jetzt wohl dringend erfahren. Sie zuckte die Schultern. "Drei Staffeln Let's Dance."

Stille. Dann: "Nicht Ihr Ernst."

Sie grinste. "Ne."

"Wo dann?"

"Bleibt mein Geheimnis", erwiderte sie und sah sein Augenrollen, ohne überhaupt zu ihm aufsehen zu müssen.

So leicht gab er natürlich nicht auf. "Was muss ich tun, damit Sie's mir verraten?"

Silke überlegte kurz. Es gab so einige Dinge, die er nie tun würde, so dringend er ihr Geheimnis auch erfahren wollte. Sie entschied sich für folgendes: "Noch eine Runde Tango."

Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass er sein Jackett auszog, sich vor sie stellte und die Hand ausstreckte. "Darf ich bitten?"

Silke stutzte. Ihr widerstrebte es zwar, dass er mit seiner Masche durchkam, aber einen zweiten Tanz mit ihm konnte und wollte sie nicht ablehnen. Also ergriff sie seine Hand. Aus einer Runde Tango wurden letztlich zwei, plus ein langsamer Walzer. 

"Wo haben Sie's denn nun gelernt?" fragte Boerne etwas atemlos.

Sie hob frech grinsend die Augenbrauen. "Tanzkurs."


***


III, Stranger:

Von allem, was er je gesagt hatte, von allen gehässigen Bemerkungen, die er je gemacht hatte - von all dem, tat es ihr am meisten weh, dass er sie bei ihrem Namen nannte. Nichts hatte ihr je einen derartig schmerzhaften Stich versetzt wie die Worte "Danke, Frau Haller", als er das Büro verließ und sie zurück ließ. Nie hatte sie sich hier so fremd gefühlt, nie hatte sie sich ihm so fremd gefühlt. 


***


IV, Paarbildung à la Münsteraner Rechtsmediziner:

Als wäre der Kongress in Mainz nicht schon schlimm genug gewesen - schreckliche Fachvorträge, langweilige Diskussionsrunden und ein Hotel, das sich seiner zwei Sterne sicherlich nicht würdig war -, jetzt waren sie am letzten Abend, so kurz vor Schluss von den Veranstaltern noch auf den Weihnachtsmarkt geschleppt worden. Paarbildung nannte man das jetzt. Zwei Dutzend mehr oder weniger gut gelaunte Rechtsmediziner an einem Glühweinstand. Doch schlimmer ging bekanntlich immer, denn Silke und ihr Chef konnten den Markt nicht einmal frühzeitig, weil alle zusammen in einem Shuttlebus angereist waren. 

Zumindest war es ihnen gelungen sich ein wenig abzuseilen. Gemeinsam mit zwei Rechtsmedizinern auf Bochum, die noch einigermaßen erträglich und nicht komplett dicht waren, standen sie abseits des Glühweinstands und unterhielten sich seit geraumer Zeit.

Obwohl Silke einen dicken Pulli und ihren Wintermantel trug, war ihr kalt. Sie fror und tat sich mittlerweile recht schwer, spät am Abend ihr Zittern zu verbergen. 

Ihrem Chef schien es ähnlich zu gehen. Boerne kam immer näher, überbrückte irgendwann die berufliche Distanz von mindestens dreißig Zentimetern. Irgendwann stand er dicht hinter ihr. Sein Körper bot ihr ein wenig Schutz vor dem eisigen Luftzug zwischen den Buden und Ständen. 

Ihr entging nicht, dass er seine Finger unter den Stoff ihres Schals schob. Sie ließ er geschehen, empfand es sogar als sehr angenehm, als seine Finger sich weiter unter ihren Kragen und den Saum ihres Pullovers schob und er sanft ihr Genick massierte. Zufrieden lehnte sie sich gegen ihn. Diese Art der Paarbildung fand sie gar nicht so schlecht.


***


V, Madrugada:

Sie hatte es schon geahnt, als sie seinen Wagen auf dem Parkplatz vorm Institut hatte stehen sehen, die Scheiben über Nacht völlig vereist. Ihr Verdacht bestätigte sich, als sie leise sein Büro betrat. Boerne schlief in seinem Schreibtischstuhl, den Kopf sichtlich unbequem auf dem Schreibtisch abgelegt. Seine Miene wirkte verkrampft. Neben ihm lag eine leere Weinflasche. Silke trat näher und nahm sie in die Hand. Die hatte er doch wohl nicht allein getrunken? Gestern hatte sie noch voll im Kühlfach über der jungen Drogentoten gelagert. Vorsichtig berührte sie Boerne an der Schulter, aber ihr Chef regte sich nicht. Obwohl sie wusste, dass er einfach nur tief schlief, legte sie kurz zwei Finger an seine Halsschlagader. 

Etwas anderes stach ihr ins Auge. Sie wandte sich von Boerne ab und betrachtete seinen Plattenspieler. Er hatte mal wieder Madrugada aufgelegt. Sie seufzte schwer. Den Text von "Hold On To You" kannte sie. Sie wusste ebenfalls, wie melancholisch diese Musik war, in welche Abgründe sie Boerne riss. 

Niedergeschlagen drückte sie Boerne einen Kuss auf die Schläfe und strich ihm flüchtig über die Stirn, bevor sie sich ihrer Arbeit zuwandte. Er würde sich niemals ändern...

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