Sechsundsiebzig

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Der leise Bass, der von den Musikboxen - davon eine direkt über ihrem Kopf - ausging, schien die Zeit anders vergehen zu lassen. Nicht wirklich die Geschwindigkeit betreffend, eher die Intensität oder wie Hanna die Zeit gerade wahrnahm. Noch immer saß sie, den Kopf auf dem linken Arm abgestützt, den Mojito schlürfend an der Bar und meinte mit jedem Schluck Alkohol etwas mehr abzudriften. Normalerweise würde sie jetzt anfangen, sich Sorgen darüber zu machen, ob sie nicht schon zu viel getrunken hatte. Normalerweise würde sie aber gar nicht erst allein in eine fremde Bar gehen und innerlich gefühlstot in irgendeiner dunklen Ecke rumhocken, fremde Leute beobachten, weil ihr eigenes Leben im Moment so schwer erträglich war. Und als wären die letzten Tage nicht genug gewesen, als hätte sie nicht schon genug durchgemacht, erkannte sie eines der Gesichter, die gerade die Bar betraten. 

Unverkennbar, das war Lena. Plötzlich erinnerte sie sich auch an die Nachricht, die sie von ihr bekommen, aber noch immer nicht gelesen hatte. Sollte sie das jetzt noch nachholen? Die Idee längst wieder verworfen, da Lena sie erkannte und in schnellen Schritten auf sie zukam, fühlte sie sich in ihre Vergangenheit zurückgeworfen. Das letzte Mal, dass Hanna sie gesehen hatte, war bestimmt schon 2 Jahre her. Und das letzte Mal, dass sie eine halbwegs ernstzunehmende Konversation hatten? Vermutlich mindestens genauso lang. Und doch war da der Teil in Hanna, der sich gerade freute, der sogar etwas nervös wurde - vielleicht aber auch nur der Drinks wegen. "Hey.", meinte Lena und ihre Stimme löste bei Hanna Gänsehaut aus. Ihre Worte waren so leise, beinah zu leise, aber Hanna hätte sie vermutlich auch taub verstanden, denn ihr Blick hing an Lenas Lippen. Ob wirklich nur des Alkohols wegen oder einfach, weil ihr heute alles so ziemlich egal war, stoppte sie sich nicht vom Starren, genoss es mehr. "Hi." Hannas Antwort war umrahmt von ihrem Lächeln, seit Stunden zur Abwechslung mal wieder ein echtes. Doch neugierig war sie trotzdem. "Was machst du denn hier?" Eigentlich wollte sie vielmehr wissen, ob es Zufall war, dass Lena in dieser Bar, fern von ihrer Heimatstadt, einfach aufkreuzte. Dann jedoch erinnerte sie sich erneut an die WhatsApp-Nachricht von ihr und sah ein, realisierte irgendwie erst richtig, dass es wohl eher keiner war.

"Du hast meine Nachricht noch nicht gelesen?", fragte Lena dann, wie um Hannas Gedanken zu bestätigen. Hanna schüttelte kaum merklich den Kopf und wollte noch ein Sorry hinterher schieben, aber Lena war ihr schon zuvorgekommen. "Du bist also durch reinen Zufall genau in der Bar, in die ich dich gebeten habe? Genau um die Uhrzeit, die ich vorgeschlagen hatte?"

Hanna stutzte. Wie bitte? Lena wollte sie sehen, okay, damit hatte sie irgendwie gerechnet. Aber das war jetzt eindeutig zu viel des Guten. "Moment.", meinte sie, während sie ihr Handy auskramte und auf die ungelesene Nachricht tippte. 

Hey, sorry für die späte Störung.. Ich würde mich gerne morgen Abend mit dir treffen, bin zur Zeit in Frankfurt und hab schon gehört, dass du hier Praktikum machst. Wusste gar nicht, dass Jura dein Ding war. Wolltest doch immer Medizin studieren? Naja. Ted's Eve um 19.30h? Ich hoffe, du kommst. Freu mich schon. Bis dann :)



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