Die Schöne und das Biest
Wölfe. Wunderschön, anmutig und tödlich. Majestätische Wesen, die von jedermann gleichzeitig bewundert und gefürchtet werden. Schlau, gerissen und loyal, in jeder Hinsicht beeindruckend. Zumindest für diejenigen, die nicht wissen was es bedeutet, ein Wolf zu sein. Ich weiß es und ich hasse es. Ich bin ein Monster.
Wie jedes Mal nach Vollmond wache ich im Wald auf. Die Vögel zwitschern und die Sonne strahlt mir hell und warm ins Gesicht. Wie kann sie so fröhlich sein, wo doch eigentlich alles kalt und tot ist?
Verbittert stehe ich auf und versuche mich zu orientieren. Ich weiß nie wo ich bin, wenn ich aufwache, es ist immer ein anderer Ort. Weit weg von dem Ort, der einmal mein Zuhause war, weit weg von all den unschuldigen Menschen.
Ich bin nackt. Obwohl es warm ist, friere ich, aber das tue ich immer. In mir ist kein Leben mehr, das mich wärmen kann, nur undurchdringliches Eis, das mein Herz umschließt. Es ist mein einziger Schutz.
Zitternd laufe ich durch das Dickicht, bis mir etwas von dem um mich herum bekannt vorkommt. Den Baum dort drüben kenne ich, eine alte Eibe. Ihre Eibe. Ich schaue weg, gehe zu einer Buche am anderen Ende der kleinen runden Lichtung und suche in ihren Wurzeln nach der Kleidung, die ich hier versteckt habe. Wo ist sie nur? Hat jemand sie weggeräumt?
Da, endlich! Versteckt in vermodernden Blättern und morschen Zweigen sehe ich schwarze Baumwolle hervorschauen. Ich ziehe daran und mit einem reißenden Geräusch löst sich der Pulli aus dem Gestrüpp. Jetzt hat er einen Riss am Saum, aber das ist egal. Ich mag es nicht, nackt zu sein, deshalb bin ich froh, ihn zu haben. Schnell ziehe ich auch die schwarze Leggings an und versuche, nicht auf die Eibe zu gucken.
Mit halb geschlossenen Augen will ich zum Auto laufen, da ich den Baum nicht sehen möchte, aber ich habe keine Schuhe an und trete auf einen scharfkantigen Stein.
Ich schreie erschrocken auf und falle zu Boden. Lange habe ich keinen physischen Schmerz gefühlt, nicht seit damals, deshalb überkommt er mich mit ungeahnter Wucht. Mit zusammengebissenen Zähnen halte ich mir den Fuß und fühle etwas Blut aus einer Wunde sickern. Es wird nicht mehr lange wehtun, das weiß ich. In ein paar Stunden wird nicht einmal mehr ein Kratzer zu sehen sein.
"Alles okay?", ruft eine besorgte Stimme und schnelle Schritte nähern sich, "Hast du dich verletzt?"
Ich drehe mich um. Ein Mann kommt auf mich zu, er ist schlank und ich erkenne nicht viel von ihm, abgesehen von seinem zerzausten blonden Haar. Er eilt auf mich zu, deshalb weiche ich zurück. Panik macht sich in mir breit. Was will er von mir?
Nun ist er keinen halben Meter mehr von mir entfernt und ich sitze immer noch auf dem Boden. Meine weit aufgerissenen braunen Augen treffen auf seine, die mich in einem fröhlichen Grünton anblitzen. Ich ducke mich weg.
"Hey, es ist alles gut", redet er nach kurzer Stille auf mich ein, als wäre ich ein scheues Tier. Das bin ich nicht, ich bin kein Beutetier, sondern ein brutaler Jäger, aber das weiß er nicht, deshalb spricht er weiter. "Ich tu dir nichts, okay?"
Ich sage nichts, bin unfähig zu sprechen. Mit Fremden kann ich schon lange nicht mehr umgehen.
"Du blutest ja!", ruft der Mann aus und versucht, nach meinem Fuß zu greifen. Ich entwinde mich dem Griff und rutsche weg. Er soll mich nicht berühren, er darf es nicht.
Der Mann seufzt und lässt mich in Ruhe. Er sieht ein, dass es nichts bringt. Plötzlich kommt er wieder näher, so schnell, dass selbst ich nicht reagieren kann. Er schiebt den einen Arm unter meine Kniekehlen und stützt mit dem anderen meinen Rücken. Dann hebt er mich hoch.
Verzweifelt will ich ihn treten, kratzen, irgendwie dafür sorgen, dass er mich runterlässt, aber sein Griff ist fest. Was hat er mit mir vor? Tränen sammeln sich in meinen Augen an. Wird er mich töten? Ich versuche alles auszublenden und mich auf das Ende vorzubereiten. Wahrscheinlich habe ich nichts anderes verdient.
Da spüre ich wie sich seine Arme von mir lösen, stattdessen spüre ich die Rinde eines Baumes im Rücken und höre Äste und Blätter rascheln. Er hat mich runtergelassen! Nun sitzt er vor mir und schaut mich an. Seine Augen sind fast vollständig von seinem Haar verdeckt, aber ich erkenne Sorge in ihnen. Seine schmalen Lippen sind zu einem leichten Lächeln verzogen und als er wieder zu sprechen beginnt, erhasche ich einen Blick auf seine weißen geraden Zähne. "Du musst keine Angst haben, ich werde dir nicht weh tun. Ich möchte dir helfen, okay? Willst du mir vielleicht deinen Namen verraten?"
Ich beschließe, ihn Monsterflüsterer zu nennen, weil seine Stimme immer so ruhig bleibt. Meinen Namen bekommt er aber nicht. Vielleicht ist er ein Jäger, der mich in Sicherheit wiegen will, bevor er mich für alles bestraft, was ich getan habe. Solche Leute gibt es, ich habe schon welche getroffen, sie regelrecht gesucht, damals, als ich mir gewünscht habe, tot zu sein. Aber jetzt will ich kämpfen, leben, auch wenn ich ich ein Biest bin. Ein Biest in Gestalt eines Engels. Ich bin nie hässlich gewesen, aber auch nicht schön, ich war die Mitte. Aber seit damals ist es anders. Ich bin nicht nur hübsch, ich bin atemberaubend. Es sind nicht meine Gesichtszüge oder meine Körperform, die sich geändert haben, es ist meine Ausstrahlung. Irgendwie leuchte ich von innen heraus und das zieht die Menschen zu mir hin. Ich glaube, es ist eine Strategie meines Körpers, Beute anzulocken. Es ist schrecklich, aber ich kann nichts dagegen tun. Ich habe schon alles versucht.
"Dann eben nicht, du musst ihn mir nicht verraten. Ich bin Jaro." Er rutscht rutscht ein Stück zurück und lehnt sich an einem anderen Baum an. Die Sonne scheint ihm direkt ins Gesicht und ich frage mich, ob das nicht blendet.
"Darf ich mir deinen Fuß mal genauer anschauen?", fragt er, "Es kann sein, dass du dich ernsthaft verletzt hast, da ist eine Menge Blut."
Ich schaue auf meine Fußsohle, nur ganz kurz, aber er hat recht. Es ist viel Blut, doch es tut kaum noch weh und wird bald geheilt sein. Ich schaue wieder zum Monsterflüsterer. Er guckt mich fragend an und scheint sich Sorgen zu machen. Ich kann seinem tiefen Blick nicht entfliehen, so sehr ich das auch möchte. Warum laufe ich nicht einfach weg?
"Darf ich dich etwas fragen?", will der Monsterflüsterer wissen und spricht weiter, ohne meine sowieso nicht folgende Reaktion abzuwarten, "Ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber kannst du nicht sprechen?"
Ich kann sprechen, ich tue es nur nicht. Früher habe ich viel geredet, mit meinen Eltern, meinen Freunden, ihr. Jetzt bin ich stumm. Die Ärzte sagen, das ist normal, wenn man ein traumatisches Erlebnis hatte, aber ich glaube das nicht. Leute hören nicht auf zu sprechen, weil sie einen Schock haben, sie hören auf, weil es eine zu große Last ist. Worte sind Waffen, sie können Leute verletzen und töten, aber wenn man sie wegsperrt und einfach nicht benutzt, passiert niemandem etwas. Genau das habe ich getan. Ich habe meine Waffen weggesperrt.
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Mein Beitrag zum Ideenzauber 2021
Short StoryDies ist mein Beitrag zum Ideenzauber 2021.