IV

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"Du musst gehen", flüstere ich, weil meine Stimme, wäre sie auch nur ein wenig lauter, brechen würde.

"Lupa...", beginnt er, doch ich schüttele den Kopf. "Du musst gehen. Bitte." Mein Kopf sinkt auf meine Brust und ich schließe die Augen. Ich will nicht sehen, wie Jaro geht, denn vielleicht werde ich ihn danach nie wieder sehen. Es ist besser für ihn, wiederhole ich in Gedanken, aber mein blödes Herz will es nicht glauben.

Ich höre Äste rascheln und die Stimme des Monsterflüsterers. Nein, ich darf ihn nicht Monsterflüsterer nennen, er ist Jaro, einfach nur Jaro. Ein Fremder, nicht mehr und nicht weniger. "Wenn du wirklich willst, dass ich gehe, dann gehe ich. Aber wenn du jemanden zum Reden brauchst, kannst du mich immer anrufen, okay?" Ich reagiere nicht, aber ich merke, wie er mir etwas in die Hand drückt. Ein Stück Plastik, dünn, rechteckig, mit abgerundeten Kanten. Mehr spüre ich nicht, aber ich will die Augen nicht öffnen um nachzusehen.

"Ich hoffe wir sehen uns wieder." Damit entfernen sich seine Schritte, aber ich wage trotzdem erst nach einigen Minuten, meine Augen zu öffnen. Als erstes schaue ich mir an, was ich in der Hand halte. Es ist eine Visitenkarte. Galerie für moderne Kunst und Photographie steht darauf und etwas kleiner mit einer Telefonnummer: "Jaro Arryn". Die Karte ist grün und mit rosa und orangen Mustern verziert. Es ist eine ungewöhnliche Farbkombination, aber es sieht nicht schön aus. Auf der Rückseite ist ein Bild von einem großen modernen Gebäude und eine Adresse. Es ist eine Stadt, in der ich noch nie war, und jetzt weiß ich auch, ich werde dort niemals hingehen.

Ich zerbreche die Karte in der Mitte und werfe sie auf dem Boden. So kann ich nicht plötzlich schwach werden und doch anrufen. Es wäre zu gefährlich, das kleine Kunststoffteil zu behalten. Mühsam rapple ich mich auf. Ich bin müde und möchte am liebsten für immer schlafen, aber bevor ich versuchen kann, das zu tun, muss ich etwas anderes erledigen. Es ist längst überfällig.

Mit langsamen zögernden Schritten gehe ich ein paar Schritte, bis ich vor Catinas Eibe stehe. Vorsichtig streiche ich über den Namen, den ich in das Holz geritzt habe. Es ist ein persönliches Grab für meine beste Freundin. Nur ich weiß von seiner Existenz und das ist gut so. Hier ist es ruhig, fast friedlich, zumindest wenn ich nicht nachdenken muss. Wenn ich einfach stumm dasitzen kann. Heute ist es anders. Ich muss mit ihr reden, selbst wenn sie nicht antworten kann. Aber wer weiß, vielleicht hört sie mich ja doch.

"Hey Cat", sage ich leise. Ihr Spitzname versetzt mir einen Stich ins Herz. "Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst, aber ich hoffe es. Es tut mir leid, was ich dir angetan habe, das musst du wissen. Du sollst mir nicht vergeben, du sollst es einfach nur wissen. Ich kann mich gar nicht genug dafür hassen, was du wegen mir alles nicht mehr tun kannst. Ich sehe dich vor mir, jeden Tag, jede Sekunde. Wenn ich koche, stehst du neben mir und lachst mich aus, wenn ich etwas vermassle. Wenn ich renne, rennst du neben mir und beschwerst dich, dass ich zu schnell bin, und wenn ich schlafe, sehe ich dich im Traum. Du bist überall." Erst jetzt merke ich, dass meine Wangen ganz nass sind und ich schmecke salzige Tränen. Nachdem ich mir einmal übers Gesicht gewischt habe, spreche ich weiter. "Das musste ich jetzt einfach loswerden, auch wenn du mich vermutlich sowieso nicht hörst. Wieso auch, du bist nicht hier, du bist nur in meinem Kopf. Aber wenn du es doch bist, dann glaub mir bitte eine Sache. Ich würde alles tun, um es rückgängig zu machen, alles. Und es tut mir so leid, dass du jetzt nicht mehr hier bist. Du warst noch so jung und du hättest noch so lange leben müssen. Du hättest auf die Uni gehen und Ärztin werden sollen, du hättest die Welt sehen müssen und dir alle deine Träume erfüllen sollen. Ich kann mich gar nicht genug dafür hassen, was ich dir alles genommen habe und ich wünsche mir so sehr, dass du das hier hörst. Ich hab dich lieb, Catina, ich werde dich immer lieb haben." Die letzten Worte lassen mich erneut zusammenbrechen.

Schluchzend liege ich auf dem Boden, zu einer Kugel zusammengerollt und ohne festen Halt. Alles, was mir normalerweise hilft, sind nun nur noch Strohhalme, die reißen, sobald ich sie berühre. Wieder ertrinke ich, doch diesmal ist niemand da, der mich aus der Flut zieht. Ich bin allein und das werde ich für immer sein. Ich habe es nicht anders verdient.

Ich weiß nicht genau, wie lange ich so daliege, aber als der Windhauch mich streift, geht die Sonne schon langsam unter. Die kalte Luft zerzaust mein Haar und lässt mich frösteln. Meine Sicht ist wegen des Meeres aus Tränen noch verschwommen, aber ich rappele mich stolpernd auf. Ich will lieber nicht im Wald sein, wenn es stürmt.

Aber es stürmt nicht. Als meine Sicht klarer wird, erkenne ich, dass alle Bäume so ruhig wie vorher stehen, der Wind ist lediglich bei mir. Ein weiteres Mal berühre ich die Inschrift am Baum und muss unwillkürlich lächeln, als mich ein angenehmer Schauer durchläuft. Vielleicht, ja ganz vielleicht, ist Catina ja doch hier.

Ich nehme die Hand von der Rinde und will zu meinem Auto laufen, da fällt mein Blick auf die zerbrochene Visitenkarte. Soll ich sie aufheben? Nein, daran darf ich gar nicht denken. Ich konnte Catina nicht retten, das darf nicht auch noch mit Jaro passieren. Traurig wende ich den Blick wieder ab und laufe weiter.

Denn eine Gemeinsamkeit haben Jaro und Catina bereits. Ich werde beide nie wiedersehen können. Und so wird es wohl mit allen Leuten sein, denn ich werde mich nie ändern können. Ich werde auf ewig so bleiben. Außen die Schöne, und innen das Biest.

Mein Beitrag zum Ideenzauber 2021Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt