III

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''Ich heiße Lupa'', sage ich. Meine Stimme ist kratzig, rau und leise, aber er hört es. Kurz schaut er mich überrascht an, aber dann lächelt er wieder. ''Freut mich, dich kennenzulernen, Lupa.''

Es ist ungewohnt, dass er meinen Namen kennt, aber es ist schön. Ich fühle mich ihm näher und das tut gut. Wäre ich nicht wie ich bin, würden wir vielleicht Freunde werden. Aber ich bin nun mal so und deshalb ist es zu gefährlich. Fast bereue ich es schon, etwas gesagt zu haben, aber dann rede ich schnell weiter. Er soll wissen, wer ich bin, was ich bin, damit er Angst hat. So ist es sicherer, auch wenn es mir schwerfällt.

Ich löse mich langsam von ihm und ein Gefühl der Einsamkeit macht sich in mir breit. Es ist nichts Neues, aber ich fürchte mich vor dem, was ich nun erzählen werde. Ich habe Angst, dass der Schmerz zu groß wird, dass ich es nicht schaffe. Unbewusst wickle ich eine Strähne meines dicken braunen Haares um den Finger und schlucke schwer.

"Es war vor sieben Monaten", flüstere ich mit heiserer Stimme und erschrecke über den dennoch melodischen Ton der darin mitschwingt.

"Da ist es zum ersten Mal passiert?", rät er und ich nicke langsam. "Ich wusste nicht, was los war. Mitten in der Nacht hat es einfach angefangen."

"Was hast du dann gemacht?"

Ich will es ihm nicht erzählen, aber das muss ich. Er wird mich hassen, aber das muss er. "Meine beste Freundin und ich... wir waren campen. Mitten in der Nacht bin ich aufgewacht, weil es... angefangen hat.'' Ich kann nicht weiter sprechen und muss die aufkommenden Tränen herunterschlucken. In dieser Nacht ist mein sorgenfreies Leben zu Ende gegangen.

''Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht willst'', meinte der Monsterflüsterer fürsorglich und legte seine Hand auf meine.

Kurz ziehe ich es tatsächlich in Erwägung, aber er muss es erfahren, auch wenn ich dadurch leiden muss. Ich werde es überleben, aber wenn ich es ihm nicht erzähle, könnte er das vielleicht nicht tun. ''Irgendwann ist sie auch aufgewacht weil ich geschrien habe.'' Allein bei der Erinnerung beginne ich wieder zu zittern.

''Also tut es weh, zum Wolf zu werden?'', fragt er vorsichtig.

''Nur beim ersten Mal. Meine Knochen, sie sind gebrochen. Alle.'' Das tun sie noch immer, aber es tut nicht mehr weh. Ich höre es, aber spüre nichts. Zum Glück, denn es war der schlimmste Schmerz, den ich je gefühlt hatte. Zumindest bis zum nächsten Morgen.

''Dort drüben.'' Ich deute zu der alten Eibe und versuche die Erinnerungen zu verdrängen. ''Dort stand das Zelt. Ich bin raus und wusste nicht mal wieso. Ich hatte Angst und Catina wollte mir helfen.'' Ihren Namen auszusprechen lässt innerhalb eines Wimpernschlags alle Dämme brechen. Mein Innerstes wird von der Flut gepackt und was mich noch vor einem Zusammenbruch bewahrt weggespült. Ich ertrinke in Emotionen. Alle Versuche, mich an die Oberfläche zu kämpfen, misslingen. Ich werde immer tiefer in einen Ozean aus Schwärze gezerrt. Am Grund sehe ich Bilder, schreckliche Bilder, Bilder von Catina, wie ich sie am Morgen nach der Verwandlung gefunden habe.

Sie lag da, ganz still und ruhig, fast als würde sie schlafen. Aber sie schlief nicht. Ich war einige Meter weiter drüben aufgewacht, nackt und voller Blut. Panisch bin ich zurück zum Zelt gerannt und dann habe ich gesehen, wie es dort aussah.

Der blaue Stoff des Zeltes war zerfetzt und von Flecken bedeckt, die ich nicht identifizieren konnte, nicht, bis ich Catina gesehen habe. Oder zumindest das, was von ihr übrig war. Voller tiefer Wunden lag sie in einem See ihres eigenen Blutes, die Gliedmaßen seltsam verrenkt. Bissspuren eines wilden Tieres zierten ihren gesamten Körper und ihre Haut hing in losen Fetzen herab.

Ich weiß noch, wie ich hingerannt bin und sie geschüttelt habe, versucht habe sie irgendwie aufzuwecken, aber nichts hat funktioniert. Ich habe geschrien und geweint und gefleht, dass jemand zur Hilfe kommt, aber es ist nichts passiert. Es war nicht wie in den Geschichten, in denen ein Ritter in glänzender Rüstung kommt und die hilflose Prinzessin rettet, es war die Realität. Niemand kam und ich habe realisiert, dass ich meine beste Freundin getötet habe.

Etwas schüttelt an meiner Schulter und reißt mich aus dem Wasser. Nein, es ist nicht etwas, es ist jemand. Jaro schaut mich besorgt an. Ich will lächeln, weil er mich gerettet hat, aber dann merke ich, dass er das nicht getan hat. Ich bin noch immer unter Wasser, ohne Luft und in der Kälte. Es gibt kein Entkommen, niemals, nur Schwärze und ewiges Ertrinken. Ich sterbe jeden Tag ein Stück und nichts kann mich davor bewahren. Gar nichts.

''Lupa'', redete der Monsterflüsterer auf mich ein, ''Beruhig dich, es ist alles gut, du bist in Sicherheit.'' Er hält mich fest, weil ich zittere und streicht mir über den Rücken. Er ist einfach da, und stellt keine Fragen mehr. Er versucht mich zu beschützen, deshalb muss ich das Gleiche für ihn tun und die Geschichte zu Ende erzählen.

"Am nächsten Morgen habe ich sie gefunden", hauche ich mit Tränen in den Augen, "Sie war tot. Ich habe sie umgebracht." Sofort hält er mich fester und ich klammere mich an ihm fest. Er ist gerade mein einziger Halt. Verzweifelt und traurig schluchze ich in sein T-shirt, wobei ich mir die ganze Zeit sage, dass es falsch ist. Ich muss mich von ihm fernhalten, nur so kann ich ihn vor mir schützen. Es ist der einzige Weg.

Schluchzend löse ich mich von ihm und weiche zurück. "Du musst dich von mir fernhalten", schniefe ich und bin sauer, weil ich so schwach bin, "Ich bin ein Monster."

"Nein, das bist du nicht", sagt er sachlich aber dennoch mitfühlend, "Ein Monster würde keine Schuldgefühle haben." Wie kann er so dumm sein? Ich bin eine Mörderin und das steht mit Monster auf einer Stufe. Er kann doch nicht so naiv sein, und das Gegenteil glauben, wo es doch eindeutig ist. Jemand, der bei Vollmond zum Biest wird, kann gar nichts anderes sein.

"Du weißt nicht wovon du redest", fahre ich ihn patziger als beabsichtigt an. Aber vielleicht vertreibt ihn das.

"Das stimmt nicht. Ich weiß zwar nichts über Lykanthropen, aber ich sehe doch, wie du dich quälst! Glaub mir, Lupa, du bist kein Monster."

Ich schüttle den Kopf und versuche, endlich die Fassung wiederzugewinnen. "Nein, ich bin böse, schlecht. Du kannst mich nicht anlügen."

"Weißt du, ich glaube nicht an Gut und Böse. Wenn du genau darüber nachdenkst, ist es sogar irgendwie rassistisch. Du teilst die Menschen in Gruppen ein, obwohl du sie nicht kennst, und steckst sie wegen Vorurteilen in verschiedene Schubladen. So will nicht einfach nicht sein und deshalb sehe ich dich nicht als Monster."

"Das solltest du aber." Nichts, was er sagt, kann etwas daran ändern.

"Nein, du solltest aufhören, dich so zu sehen, das ist nicht gesund." Er meint es gut, aber im Angesicht der Tatsachen ist seine Aussage beinahe schon lächerlich.

"Sich in einen Wolf zu verwandeln ist auch nicht gesund." Und Leute umbringen auch nicht, aber das sage ich nicht laut. Er würde nur versuchen, mir einzureden, dass alles gut werden würde. Ich weiß nicht, wann ich angefangen habe, das zu hassen, denn noch vor wenigen Minuten hat es mich beruhigt. Aber so ist es besser, sicherer.

"Dafür kannst du aber nichts", meint der Monsterflüsterer und will seine Hand auf meine legen. Ich zucke zurück. Es ist fast wie am Anfang. Aber das ist schließlich gut. Ich will es ja so, das wollte ich die ganze Zeit. So ist er sicherer.

Aber woher will Jaro wissen, ob ich etwas dafür kann, oder nicht? Vielleicht passiert es manchen Leuten einfach, aber vielleicht habe ich auch etwas getan, das es ausgelöst hat. Ich weiß es nicht, aber es ist bestimmt nicht ohne Grund passiert. Nichts passiert je ohne Grund.

"Du musst dir keine Schuldgefühle machen", wiederholt er, "Du wusstest damals nicht, was passiert."

Das macht keinen Unterschied. Es ist passiert und es lässt sich nicht rückgängig machen. Sie ist und bleibt tot. Wegen mir. Ich weiß nicht, was ihre letzten Worte oder Gedanken waren, oder ob sie wusste, dass ich es war. Ich weiß nicht, ob sie gefleht hat oder gelitten, ich weiß gar nichts. Diese Nacht ist ein einziger Fleck aus Dunkelheit. Ich weiß, ich habe es getan, aber ich weiß nicht wie, und das frisst mich von innen heraus auf. Es ist das schlimmste Gefühl, das es gibt. Ich will es einfach nicht mehr spüren, nein, ich kann es nicht mehr spüren. Das halte ich einfach nicht mehr aus. Aber das muss ich. Es gibt nur eine Möglichkeit und die ist es, zu kämpfen. Ich darf mich nicht mehr von meinen Emotionen übermannen lassen und vor allem darf ich Jaro nicht noch mehr in Gefahr bringen.

Mein Beitrag zum Ideenzauber 2021Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt