"Ich nehme das mal als ja." Er lächelt erneut, diesmal mitleidig. Ich lasse ihn in seinem Glauben, es ist leichter so. Auf diese Weise muss ich nicht erklären, warum ich nicht reagiere.
"Du kannst nicken oder den Kopf schütteln, dann weiß ich, dass du mich verstehst", schlug er vor, "So können wir uns trotzdem unterhalten." Er scheint überzeugt von seiner Idee zu sein, aber ich werde nicht mitmachen. Er soll nichts über mich erfahren.
"Ich habe dich gesehen", sagt er, noch immer mit freundlicher Stimme, "Letzte Nacht."
Ich erstarre. Er hat mich gesehen! Das kann nicht sein, ich passe immer auf, dass niemand in der Nähe ist, wenn es passiert. Wenn er hier war, wie kann er dann noch leben, und warum hat er keine Angst? Ich bin ein Monster, er müsste fliehen!
"Keine Sorge, ich tu dir nichts", verspricht er mit erhobenen Händen. Sie sehen nicht aus, wie die eines Jägers, sie sind zu zart und ruhig, eher wie die eines Malers. Jäger haben gröbere Hände und Hornhaut, außerdem sind sie allgemein kräftiger. Es ist nicht leicht, Bestien zu fangen.
"Du glaubst mir", stellt er fest und lächelt sanft. Das stimmt nicht ganz. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm glauben kann, ich kenne ihn ja nicht. Aber ich versuche nicht zu fliehen, es würde nichts bringen. Mein Fuß ist noch nicht ganz geheilt.
"Du musst wirklich keine Angst vor mir haben", wiederholt er und ich frage mich, wie oft er das noch sagen wird und ob ich es irgendwann tatsächlich glauben werde.
"Wie kannst du das?", fragt er, aber mehr als würde er mit sich selbst reden, "Wie kannst du zum Wolf werden?"
Ich weiß es nicht. Es passiert einfach und ich kann nichts dagegen tun. Beim ersten Mal war es am Schlimmsten. Ich wusste nicht, was mit mir passiert und es hat weh getan. Es hat so schrecklich weh getan und ich hatte solche Angst.
"Gibt es noch andere wie dich?", will er wissen. Er fragt sanft und vorsichtig, eben ganz der Monsterflüsterer.
Ich zögere kurz und bin mir nicht sicher, ob und wie ich reagieren soll. Er hat mir nichts getan, soll ich ihm also vertrauen? Oder es zumindest zu versuchen? Ich entschließe mich dazu, es zu tun, wenn auch nicht vollständig, und schüttle den Kopf. Ich bin die einzige, die so ist wie ich, die bei Vollmond zur Bestie wird. Vielleicht gibt es andere, aber ich kenne niemanden außer mir. Jäger würde es jedenfalls genug geben.
Der Monsterflüsterer ist kurz überrascht, weil ich reagiere, aber dann lächelt er wieder sein warmes Lächeln. Es sieht schön aus, wenn er das macht. Freundlich. Es erinnert mich an sie.
Ich wende den Blick ab. Nun kommt er mir wieder bedrohlich vor. Ein Geist aus der Vergangenheit, der mich heimsucht. Ich will nicht an damals denken, aber es ist schwer. Hier im Wald, wo es passiert ist, mit der Eibe ein paar Meter weiter und Jaro, mit seinem Gesicht, das ihrem so unglaublich ähnlich sieht, wenn er lächelte. Eine einsame Träne kullert mir über die Wange.
''Was ist los?'', fragt er besorgt, sobald er es bemerkt und kommt ein Stück näher zu mir. Ich zucke zurück und kämpfe verzweifelt um Beherrschung. Ich will nicht weinen, das sollte ich nicht können. Monster sollten nicht weinen können. Zitternd kneife ich die Augen zusammen und blinzle ein paar Mal. Es hilft. Ich werde ruhiger, doch Jaro kann ich trotzdem nicht ansehen.
''Hey, es ist alles gut'', redet er auf mich ein, aber es stimmt nicht. Nichts ist gut. Sie ist tot und der Monsterflüsterer weiß, dass ich ein Monster bin. Nichts wird je wieder gut werden. Das kann es gar nicht. Aber weinen macht es auch nicht besser, also atme ich tief durch und setze eine kalte Maske aus Emotionslosigkeit auf, die aber jetzt schon anfängt zu bröckeln. Ich weiß nicht, wie lange ich sie aufbehalten kann.
''Es ist okay.'' Jaro legt seine Hand auf meinen Arm. ''Es ist okay zu weinen.'' Nein, ist es nicht. Nicht für mich. Ich sollte nicht trauern können, nicht um sie. Es steht mir nicht zu. Erneut gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfend, schüttele ich den Kopf um ihm zu zeigen, dass er mich nicht kennt und nicht weiß, was für Monster okay ist. Ein ersticktes Schluchzen entrinnt meinem Mund und ich senke den Kopf zu Boden.
''Was immer es ist, du kannst es mir erzählen'', bietet der Monsterflüsterer an, ''Ich werde dich nicht dafür verurteilen.'' Ich würde ihm gerne glauben, aber das kann ich nicht. Würde er wissen, was ich getan habe... Ich will gar nicht wissen, was er dann tun würde. Ich habe Angst und ich bin wütend auf mich selbst, weil ich es so weit habe kommen lassen. Nun schwebt auch Jaro in Gefahr, weil er es weiß. Er kann deshalb alles verlieren, vielleicht sogar sein Leben, und das nur wegen mir. Ich hätte besser aufpassen müssen.
Noch immer sehe ich ihn nicht an, starre nur auf den von Laub und Ästen bedeckten Waldboden, beobachte die vorbeikrabbelnden Insekten und schluchze hin und wieder leise, wofür ich mich hasse. Ich weiß nicht, warum ich das tue, sonst habe ich meine Emotionen immer unter Kontrolle.
Auf einmal spüre ich, wie ich in eine feste Umarmung gezogen werde. Ich wehre mich nicht, lasse es einfach geschehen. Ich habe keine Kraft für etwas anderes und die Nähe des Monsterflüsterers ist beruhigend. Ich fühle mich sicher, geborgen, beschützt. Und während wir so dasitzen, ich in seinen starken Armen, beschließe ich zu ersten Mal seit Monaten, wieder zu sprechen.
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Mein Beitrag zum Ideenzauber 2021
Short StoryDies ist mein Beitrag zum Ideenzauber 2021.