Disse:
Mein Herz schlug wie verrückt gegen meinen Brustkorb als ich mich in dem kleinen Flugzeug auf meinen Platz am Fenster niederlassen ließ. In wenigen Minuten würde ich abheben Richtung Stuttgart. In gut vier Stunden würde ich dann auf deutschen Boden nach einem Zwischenstopp in Wien landen. Abgesehen von meiner Mutter, die ich gebeten hatte mich vom Flughafen abzuholen, ahnte niemand, dass ich in wenigen Stunden wieder in Deutschland sein werde. Lukas war mit seiner Mannschaft auf dem Weg nach Flensburg zu ihrem Auswärtsspiel und würde erst morgen Nachmittag wieder zurück nach Mannheim kehren und auch Anna hatte ich bisher noch nicht Bescheid gegeben, dass ich kommen werde. Schließlich wollte ich sichergehen, dass erstmal alles in trockenen Tüchern war, bevor ich Lukas die freudige Nachricht überbringen werde, dass es von nun an keine Goodbyes mehr an irgendwelchen Flughäfen geben würde. Das Gespräch heute Morgen in aller früh noch vor meinem vermutlich letzten Training bei Vadar Skopje war noch immer so präsent. Noch immer hörte ich die Stimme meine langjährigen Freundes Ben Matschke.
Rückblick:
Mit zittrigen Händen wählte ich die Nummer von Ben. Ich hoffte einfach, dass er noch zuhause sein würde, schließlich spielte er heute mit seiner Mannschaft in Kassel, um wichtige Punkte im Kampf um den Nichtabstieg. Es dauerte etwas bis das Piepen verstummte und eine vertraute Stimme sich am anderen Ende der Leitung zu Wort meldete: "Ben Matschke hallo" "Ben, hey ich bins Disse", meldete ich mich erfreut, doch spürte wie meine Nervosität nicht weniger wurde, schließlich war es ein großer Gefallen, um welchen ich meinen besten Freund nun bitten würde. "Der Nordmazedonier / Championsleague Sieger - was gibt es?", ahnte Ben sofort, dass ich ihn nicht ohne Anliegen anrufen würde, vor allem nicht um eine so frühe Uhrzeit. "Ich will um jeden Preis wieder zurück nach Deutschland kommen. Ich halte die Distanz zu Lukas einfach nicht aus", begann ich mit einem Anliegen rauszurücken, weit kam ich jedoch nicht mit meiner Ausführung, da hatte mich Ben bereits durchschaut, weswegen ich mich bei ihm meldete. "Und du würdest dir wünschen, dass ich ein gutes Wort bei der Geschäftsführung der Eulen einlege", versuchte Ben zu erraten, worauf es hinauslaufen würde. "Ja, aber ich weiß auch, dass ihr es euch nicht leisten könnt mich aus meinem Vertrag bei Vadar freizukaufen", äußerte ich meine Bedenken, dass dieser Plan doch nicht so genial war, wie er zuvor gewirkt hatte. "Ich kann dir nichts versprechen, aber ich kann ja mal ein paar Anrufe machen und schauen, was ich so erreichen kann", erklärte sich mein Freund bereit mir mal wieder aus der Patsche zu helfen. "Danke ich bin dir was schuldig", bedankte ich mich bereits jetzt, dass er sich für mich so ins Zeug legte. "Ich werde bestimmt darauf zurückkommen, aber wenn wir dich holen können und du uns hilfst die Liga zu halten, dann ist das schon genug was du mir zurückgeben kannst", lachte Ben, der natürlich seinen Herzensverein nicht verlassen wollte, ohne diese eine weitere Saison in der ersten Liga zu wissen. Schließlich würde er nächstes Jahr den Trainerposten in Wetzlar übernehmen. Kurz darauf war das Gespräch beendet und ich war zum Training gefahren. Als ich nach dem Training ein Blick auf mein Smartphone geworfen hatte, waren da zwei verpasste Anrufe von Ben und eine WhatsApp, die ich natürlich sofort öffnete:
"Alles geklärt: Melde dich einfach mal unter folgender Nummer. Ich bin vorerst ab heute Abend wieder zu erreichen, ich will den Fokus jetzt auf das heutige Spiel mit meinen Jungs legen. Willkommen zurück Disse!"
Ich hatte einige Zeit gebraucht, um zu realisieren, dass dies gerade wirklich der Wirklichkeit entsprach. Natürlich hatte ich mich sofort bei der Nummer gemeldet, was die Geschäftsführung der Eulen gewesen war, die mir ein sofortiges Angebot machen vorerst bis zum Ende der Saison mit Option auf Verlängerung, im Falle, dass sie die Liga halten würden, wenn Vadar Skopje bereit wäre, mich ohne Ablösesumme und Sperrung aus meinem aktuellen Vertrag zu entlassen. Was folgte war ein Verhandlungsmarathon auf Hochtouren. Ich hatte sofort meinen Berater angerufen und mein Anliegen erklärt, woraufhin wir uns zusammen mit dem Verein zusammengesetzt hatten und es geschafft hatte, dass diese mich gehen ließen. Ich konnte es immer noch nicht glauben, dass ich mich nun auf dem Weg nach Deutschland befand, wo ich in wenigen Stunden bei den Eulen einen Vertrag mit sofortiger Wirkung unterschreiben würde. Ich würde nicht mehr zurück nach Mazedonien müssen. Zumindest bis zum Ende der Saison nicht. Natürlich wusste ich auch, dass es eine enorme Herausforderung werden würde, mich blitzschnell in ihr Spielsystem zu integrieren und ihnen dabei zu helfen, nicht abzusteigen. Doch ich freute mich darauf meinem Heimatverein helfen zu können und ihnen etwas zurückzugeben, dafür, dass sie mich damals zu dem Spieler entwickelt hatten, der ich nun war. Ich war auch Ben unfassbar dankbar, für das was er für mich möglich gemacht hatte. Es war meine Gelegenheit mich nun in den letzten Wochen der Saison gut zu präsentieren und hoffentlich jemand anderen aus der Liga noch auf mich aufmerksam zu machen, weil ich wusste, dass dies nur eine kurze Übergangslösung war. Ich verdiente so nur ein Bruchteil von dem was mir in Vadar gezahlt wurde, wenn es mir gezahlt wurde, wenn man diese Phase in den beiden Saisons zuvor ausklammerte. In dieser Saison hatte ich mein Gehalt wie versprochen erhalten. Trotzdem wusste ich, dass die Eulen mich nicht auf Dauer zahlen konnten, vor allem wenn der Weg doch in die zweite Liga gehen würde. Aber es war ein kleines bisschen Hoffnung die Handballschuhe nicht doch an den Nagel hängen zu müssen. Und selbst wenn würde ich auch dafür einen Ausweg finden. Für mich war das Wichtigste das zählte, dass ich Lukas nun bald wieder in meine Arme schließen konnte und ihm sagen konnte, dass ich nicht mehr gehen würde. Ich fragte mich bereits wie er reagieren würde, wenn er erfahren würde, was ich heute getan hatte. Ich hatte es einfach nicht mehr in Skopje ausgehalten. Natürlich war ich vorher nochmal in die Halle gefahren, hatte mich bei meiner Mannschaft verabschiedet, mich für die unfassbar schöne Zeit bedankt, die ich trotz aller Schwierigkeiten mit ihnen hatte und dafür, dass sie an mich geglaubt hatten, als ich an meinem Tiefpunkt gewesen bin und mich wieder zu dem aufgebaut haben, der ich nun war. Natürlich hatte ich ihnen meinen Grund für diesen plötzlichen Wechsel erklärt. Glücklicherweise hatten das alles verstehen können, auch wenn sie natürlich etwas enttäuscht und traurig waren, dass ich sie in der Schlussphase der Seha League nun alleine ließ.
Ich wusste, dass diese Entscheidung auch ein Risiko war. Aber sie war für mich die einzig richtige Entscheidung und der Ausweg aus diesem unerträglichen Teufelskreis, in welchem ich mich seit Monaten bewegt hatte. Zum ersten Mal seit langem hatte sich auf meinen Lippen wieder ein permanentes Lächeln gebildet, was jedoch niemand wegen dieser blöden FFP2 Maske zu Gesicht bekam. Erst als ich über den Wolken war, hatte ich etwas ein schlechtes Gewissen, dass ich es nicht geschafft hatte vor lauter Stress mich bei Lukas zu melden und ihm nochmal viel Erfolg für sein Spiel zu wünschen. Da ich aber hoch oben über den Wolken schwebte war dies nun auch leider nicht mehr möglich und wenn ich landen würde, würde er bereits auf dem Spielfeld stehen. Also würde ich ihm erst nach Ausgang des Spiels wieder schreiben können. Es war 19:38 als das Flugzeug auf der Landebahn des Stuttgarter Flughafen aufsetzte. Kurz darauf lief ich mit meinem Gepäck Richtung Flughafenausgang und schaute mich suchend nach meiner Mutter um, die mir geschrieben hatte, dass sie am Ausgang warten würde. Auf einmal entdeckte ich ein vertrautes Gesicht. Als auch der Blick meiner Mutter den von mir einfangt, bildete sich ein unbeschreiblich schönes Lächeln auf ihren Lippen, welches ich trotz Maske erkennen konnte. Ich lief zwischen den wenigen anderen Fluggästen hindurch auf meine Mutter zu, die mich kurz darauf überglücklich in die Arme schloss, schließlich hatten wir uns auch seit Weihnachten nicht mehr gesehen. "Hey mein Großer, schön dich zu sehen", nahm sie mich überglücklich in den Empfang und drückte mir durch die Maske hindurch einen Kuss auf die Wange. Nachdem wir uns nach einer halben Ewigkeit voneinander gelöst hatten, sie etwas von meinem zahlreichen Gepäck entgegengenommen hatte und wir uns auf dem Weg zum Parkplatz machten, konnte meine Mutter nicht länger warten, was mich mitten in der Saison hierher verschlug. "Ich stehe voraussichtlich ab morgen früh wieder bei den Eulen Ludwigshafen vorerst bis Ende der Saison unter Vertrag. Ich hab meinen Vertrag in Skopje aufgelöst. Ich habe es einfach nicht mehr ohne Lukas ausgehalten. Diese Distanz hat mich auf Dauer kaputt gemacht. Für ihn kehre ich auch zu meinem Heimatverein zurück und kämpfe mit diesem gegen den Abstieg", erklärte ich meiner Mutter. Diese konnte ihre Freude über die Rückkehr ihres einzigen Sohns nicht verbergen und begann mich nochmals überglücklich in den Arm zu nehmen und dabei fast zu zerquetschen so glücklich war sie. Und erneut bestätigte dies mich in meiner Entscheidung. Es fühlte sich so unfassbar gut an.
Am Auto angekommen ließ ich mich erschöpft auf den Beifahrersitz fallen, entschuldigte mich bei meiner Mutter, dass ich nun die zweite Halbzeit von Lukas auf dem Tablett via Sky Go verfolgen musste. "Schau deinem Schatz zu ich bringe uns so lange nach Hause", meinte meine Mutter zu Tränen gerührt und strich mir ungläubig nochmals liebevoll über die Wange. Als ich einschaltete wurde gerade die zweite Halbzeit angepfiffen und die Löwen führten aktuell mit 5 Toren in Flensburg. Etwas enttäuscht stellte ich fest, dass Lukas jedoch vorerst auf der Bank saß. Doch nach dem Vorsprung relativ schnell dahingeschmolzen war, wurde Lukas wieder in die Partie geschickt. Sie schafften es wieder auf drei Tore davonzuziehen und diesen Vorsprung zu halten bis gut 10 Minuten vor Ende des Spiels. Lukas steuerte einige geile Tore bei, aber auch leider die ein oder andere Fahrkarte. Vor allem in der erneuten Schwächephase die dafür sorgte, dass die Flensburger fünf Minuten vor Ende des Spiels wieder ausgleichen konnten. Die Auszeit zeigte Wirkung. Sie setzten sich wieder auf zwei Tore ab. Doch erneut sorgten technische Fehler dafür, dass Flensburg wieder zurückkam und ausgleichen konnte eine Minute vor Ende des Spiels. Ich fieberte gebannt vor dem Tablett mit. Sie hatten den Ball. Sie würden es eventuell mit Geschick schaffen können die Zeit runterzuspielen. 20 Sekunden vor Ende wurde der Arm der Schiedsrichter gehoben. Nur noch sechs Pässe. Am Ende spielten sie es ungeschickt und schafften es nicht einen Torwurf zu ermöglich, sondern verloren den Ball nach einem schlechten Kreisanspiel. Die Sekunden verrannten. Die Flensen mussten abschließen. Palicka parierte. Unendschieden! Erleichtert schrie ich auf, auch wenn ich wusste, dass mehr drin gewesen war. Immerhin ein Punkt!
Ich schrieb sofort Lukas eine Nachricht in welchem ich ihm zum Punktgewinn gratulierte und ihm mitteilte, dass ich ihn in der zweiten Halbzeit spielen gesehen habe und so unfassbar stolz auf ihn sei. Dann packte ich die technischen Geräte weg, schließlich fuhren wir gerade über die Rheinbrücke nach Ludwigshafen rein. Ich ließ das Fenster nach unten und saugte Heimatluft auf und fühlte mich so glücklich wie seit Jahren nicht mehr. Ich war wieder zuhause!
So kurz vor Heiligabend schenke ich euch auch noch eine Kleinigkeit zu lesen. Jetzt wisst ihr was Disses Plan war. Ich hoffe das Kapitel hat euch gefallen. Ich wünsche euch allen frohe und besinnliche Weihnachten, genießt die Zeit mit eurer Familie und bleibt vor allem gesund!