Max:
Nervös rutsche ich auf meinem Platz hin und her, während die Passagiere langsam im Flugzeug Platz nahmen und auch sich die Gespräche um mich herum beruhigten. Ich saß ganz am Fenster neben Kai Dippe. Ich hatte natürlich wieder den angenehmsten Nebensitzer zugeteilt bekommen. Auch wenn Kai echt ein klasse Typ war und auf dem Spielfeld unser Anführer war, konnte er einem abseits der Platte manchmal einem echt so richtig auf die Nerven gehen. Er redet verdammt viel, wenn der Tag lang ist. Und das unangenehmste ist, dass er nicht merkt, wenn man gerade absolut nicht reden will. Er labbert dir trotzdem das Ohr weg. Und meistens erzählte er nicht mal irgendwelche weltbewegende Dinge. Nein, was er gestern zu Abend gegessen hat oder was für welche ultralustigen Studien er gefunden hat. Letzte Woche hatte er im Training alle nach den Geburtstagen gefragt, damit er uns mitteilen konnte, an welchem Welttag man Geburtstag hatte. Und ausgerechnet heute würde ich mich am liebsten ins Bett verkriechen und am liebsten niemand sehen. Immer und immer wieder versuchte ich mir verzweifelt einzureden, dass heute noch nicht der Tag ist. Doch es stand schwarz auf weiß auf meinem Handdisplay. 03.September 2019: Auswärtsspiel in Kiel gegen den Rekordmeister. Normalerweise sollte man Feuer und Flamme sein! Ich meine man spielt nicht jeden Tag in der Kieler Sparkassen Arena und jeder, der einmal dort aufgelaufen ist, schwärmte von dieser Arena. Von klein auf wollte ich einmal selbst auf dem Spielfeld dem THW Kiel gegenüberstehen. Heute war der Tag gekommen. Doch anstatt das ich Freudentänze machte, würde ich am liebsten aus dem Flugzeug steigen und wieder nach Hause fahren. Doch dafür war es mittlerweile zu spät. Das Flugzeug rollte langsam Richtung Startbahn und ich verkrampfte immer mehr in meinen Sitz. "Flugangst? Willst du meine Hand halten?", ich spürte den verwirrten Blick von Kai auf mir. Ich spürte wie mein Gesicht zu glühen anfing und sich meine Wange immer mehr zu einer Tomate verwandelten. Peinlich! Mensch Max! Jetzt reiß dich zusammen! Es ist drei Monate her! Es hatte nichts zu bedeuten gehabt, also brauchst du dir wegen nichts Gedanken machen! Einfach locker bleiben, startete ich einen vergeblichen Versuch mich zu beruhigen. Funktionierte natürlich wie immer hervorragend. Ganz im Gegenteil! Auf einmal waren sie wieder da! Die ganzen Erinnerungen an ihn. Heute würde ich ihn zum ersten Mal wieder sehen, nachdem was genau vor drei Monaten in Ludwigshafen geschehen war: Ich war gerade erst nach Ludwigshafen gezogen und hatte meine erste eigene Wohnung bezogen. Nachdem in meiner Wohnung das größte fertig war, wollten meine Kumpels und ich das Ludwigshafener Nachtleben erkunden. Irgendwann hatte wir uns in einer dieser typischen muffeligen Bars wiedergefunden. Es hatte natürlich keine drei Minuten gedauert, dann waren meine Freunde irgendwo in der Menge mit zwei hübschen Blondinnen verschwunden und ich war alleine zurückgeblieben. Ich war noch nie der Typ gewesen, der unbedingt so gerne feiern ging. Was auch damit zusammenhing, dass ich bereits seit mehreren Jahren wusste, dass ich keine Gefühle für Frauen habe. Aus diesem Grund fühlte ich mich in Clubs immer so Fehl am Platz, weshalb ich eigentlich nicht oft abends loszog. In Magdeburg hatte ich eh kaum Zeit gehabt. Das ganze Training, die A Jugend Bundesliga und mein Abitur hatten genug Zeit in Anspruch genommen. Meinen Kumpels hatte ich bisher immer klarmachen können, dass ich mich auf meine Karriere konzentrieren möchte. Doch heute hatte ich keine andere Wahl gehabt als mitzukommen. Jedes noch so gutes Argument hätte keinen Erfolg gebracht! Aus diesem Grund saß ich irgendwann leicht angetrunken an der Bar und bestellte mir ein Bier nach dem anderen. Ich spürte bereits, wie sich der Alkohol in meinem Körper bemerkbar machte. Natürlich hatte ich die Zeit genutzt mich umzuschauen. Es gibt hier ja auch genug gut aussehende Jungs, die vermutlich jedoch leider alle hetero sind. Einer hatte bereits länger meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er saß nur wenige Barhocker von mir entfernt und spielte lustlos mit der Flasche, die vor ihm auf dem Tresen stand. Er wirkte irgendwie in Gedanken versunken. Immer mal wieder hatte ich gespürt, wie auch er zu mir hinübergesehen hat. Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass ich ihn die ganze Zeit anstarrte, oder ob er auch Interesse an mir gefunden hatte. Zumindest bildete sich auf sein Lippen, so gut wie ich es im Scheinwerferlicht erkennen konnte, ein Lächeln. Beschämt hatte ich mich schnell weggedreht und spielte vor, dass ich in eine andere Richtung schauen würde. Irgendwie war mir die ganze Geschichte schon wieder verdammt peinlich. Irgendwann war es dann dazu gekommen, dass er sich zu mir gesetzt hat. Wir waren ins Gespräch gekommen und hatten weitere Biers und Shots getrunken. Was dann folgte? Kompletter Filmriss! Noch nie zuvor war ich so betrunken gewesen! Am nächsten Morgen! Fremdes Zimmer! Ein unbekanntes Bett! Eine Person neben mir, die nicht meinem besten Freund Jannik ähnlich sah. Sofort war ich hellwach gewesen und hatte verzweifelt versucht die einzelnen Fetzen vom gestrigen Abend zusammenzuzählen. Doch Filmriss! Ich hatte keine Ahnung was vorgefallen ist. Zudem machte mein pochender Schädel mir einen Strich durch die Rechnung irgendeine Erinnerungen wieder zurufen. Ein Blick durchs Zimmer reichte jedoch um zu wissen, was hier vorgefallen war. Ich hatte betrunken mit einem fremden Typen geschlafen. Blitzschnell war ich aufgesprungen und hatte meine Sachen vom Boden aufgelesen, während er zu meinem Glück tief und fest weitergeschlafen hat. Die ganze Zeit war er mir bereits so bekannt vorgekommen. Als ich seinen Kopf nun neben mir auf dem Kopfkissen liegen sah, als ich mir meine Socken überstreifte, erkannte ich ihn. Nikola Bilyk! Handballprofi beim THW Kiel! Sofort hatte mich die Panik ergriffen. Ich war abgehauen, ohne eine Nummer zu hinterlassen. Ich wollte einfach nur weg. Ich hatte gehofft die Sache vergessen zu können. Doch jetzt wurde mir bewusst, dass ich nicht mehr vor meiner Angst weglaufen konnte. Ich war in diesem Flugzeug gefangen, welches mich Wohl oder Übel nach Hamburg bringen würde. In wenigen Stunden würde ich ihm gegenübertreten. Und ich hatte absolut keine Ahnung wie ich reagieren sollte? Sollte ich ihn grüßen oder doch besser ignorieren? Innerlich hoffte ich, dass er es entweder vergessen hat oder nicht mehr weiß, dass ich es gewesen bin. Trotzdem hatte ich Angst. "Hast du neuerdings auch Flugangst wie Pascal?", fragte mich Kai verwirrt, weil ich mich aus Versehen ängstlich an meinem Sitz festgekrallt habe, genau in dem Moment, als das Flugzeug abhob und es für mich kein Zurück mehr gab. Das nächste Ziel hieß Hamburg! "Hallo? Erde an Max? Geht es dir gut?", wild fuchtelte Kai mit seinen Händen vor meinem Gesicht herum, bis mir ein genervtes: "Was?", entfuhr. "Ok komm mal wieder runter! Ich dachte du fällst mich gleich in Ohnmacht so blass bist du", verteidigte er sich und sofort fühlte ich mich schlecht ihn so angefahren zu haben. Er konnte absolut nichts dafür, dass ich heute so schlecht gelaunt war! Er konnte nichts dafür, dass ich vor einigen Wochen so betrunken gewesen bin, dass ich ausgerechnet mit Nikola Bilyk ins Bett gestiegen bin! Er konnte nichts dafür, dass ich schwul bin und mich dafür hasse. Ich spürte wie ich innerlich gegen die Tränen ankämpfte. Verzweifelt zog ich die Füße schützend vor meinen Körper und versuchte verzweifelt jetzt nicht vor allen hier in Tränen auszubrechen. Noch immer spürte ich den prüfenden Blick von Kai auf mir und wünschte mich einfach an den Arsch der Welt. Da wäre ich dann wenigstens für mich allein! Kein Kai! Kein Niko! Keine anderen Fluggäste! Niemand! So schnell wie wir losgeflogen war so schnell setzten wir dann auch wieder zur Landung an. Man war gerade oben und dann flog man schon wieder runter. Ich mochte fliegen, aber ich war eher der Fan von längeren Flügen. Doch heute kam es mir sehr entgegen endlich aus diesem Flugzeug steigen zu können und Kai zu entkommen. Heute war er sogar erstaunlicherweise sehr ruhig gewesen. Vielleicht hat er einfach bemerkt, dass ich heute nicht den besten Tag habe. Gerade mal eine Stunde nach Abflug setzte das Flugzeug wieder auf der Landebahn auf und die Passagiere klatschten, wie immer wenn man erfolgreich gelandet war. Die Minuten bis das Flugzeug endlich an seiner Parkposition zum stehen kam zogen sich unnötig in die Länge. Ich war froh, als ich mich endlich von meinem Sitz erhob und meinen Mannschaftskollegen aus dem Flugzeug folgte. Draußen sammelten wir uns alle erstmal um sicher zu gehen, dass wir niemanden auf dem Weg verloren haben. "Bin ich froh endlich wieder Boden unter den Füßen zu haben", freute sich Pascal und atmete erleichtert durch. "Und hast du wieder fast in die Hose gemacht?", neckte ihn Jero und kassierte daraufhin einen tötenden Blick. Ich hörte den Diskussion und den Gesprächen der Jungs nicht wirklich zu. Auch von Bens Ansprache bekam ich so gut wie nichts mit. Wird schon nicht so wichtig gewesen sein! ich folgte den anderen mit einem mulmigen Gefühl im Bauch ins Flughafengebäude, wo wir kurz darauf unser Gepäck einsammeln konnten, bevor es dann weiter zum Bus ging. Eine weitere einstündige Busfahrt wartete auf uns. "Wieso muss Kiel so verdammt weit weg sein?", regte sich mein bester Freund auf, der wie die meisten keine Lust mehr auf eine weitere Busfahrt hatte. Doch allein das Wort Kiel, sorgte für dieses Kribbeln in meinem Bauch, welches ich absolut nicht einordnen konnte. Kiel - verband ich sofort mit ihm! Mit Niko, wegen dem ich seit Tagen nachts nicht schlafen konnte. Wegen ihm zerbrach ich mir stundenlang den Kopf. Ob es ihm ähnlich ging wie mir? Nein, Max! Jetzt hör auf sowas zu denken! Er hasst dich vermutlich oder hat den Abend bereits vergessen! Noch heute versuchte ich die einzelnen Erinnerungen wieder zusammenzufügen. Das letzte woran ich mich jedoch erinnern konnte, war der Moment, als er mich zum Tanzen aufgefordert hat und ich eingewilligt hatte, obwohl ich normalerweise eher ein Tanzmuffel war. Alles andere war verschwunden. Nur nicht dieses Gefühl, welches mich seit Wochen verfolgte. Was wäre gewesen, wenn ich geblieben wäre? Wären wir jetzt zusammen? Wüsste ich, ob ich wirklich was für ihn empfand? Bis heute bereute ich, damals abgehauen zu sein, ohne ihm eine Chance zu geben, mit mir über diese Sache zu reden. Heute bereute ich es am meisten! In wenigen Minuten werde ich ihm gegenübertreten müssen. Der Trainer erwartete von mir, dass ich meine Leistung abrufe, damit wir heute eine geringe Chance haben beim Rekordmeister Anschluss halten zu können. Doch ich fühlte mich heute absolut nicht in der Lage, annähernd an meine Leistung anknüpfen zu können. Ständig schweiften meine Gedanken ab. Ich konnte nicht mal den Gesprächen meiner Mitspieler folgen. Ich sah bereits schwarz heute länger als wenige Minuten auf der Platte stehen zu dürfen. Die ganze Fahrt über war ich so in Gedanken versunken, dass mich irgendwann die Müdigkeit überkam. Die letzten Tage hatten Spuren hinterlassen. Erst als jemand mich wie wild durchschüttelte und "Max" mir in einer nicht angemessen Lautstärke ins Ohr schrie, dass mir fast das Trommelfell platzte, riss ich erschrocken meine Augen wieder auf. Jannek hatte sich über den Gang hinweg zu mir rüber gelehnt und grinste mich kopfschüttelnd an. "Nee wilde Nacht gehabt", traf er natürlich direkt wieder den wunden Punkt und sofort waren sie wieder da. Die Erinnerungen an meinen größten Fehler. Was hab ich mir nur dabei gedacht? "Wir fahren übrigens gerade nach Kiel rein", erklärte mir, dass wir gleich da sind, was jedoch dafür sorgte, dass mein bescheuertes Herz meinte wie verrückt gegen meinen Brustkorb hämmern zu müssen. "Jungs! Könnt ihr mir bitte kurz zu hören", sorgte Ben nochmal für Ruhe. "Wir halten in zehn Minuten vor der Kieler Sparkassen Arena. Dann habt ihr noch zwei Stunden zur freien Verfügung, wo ihr etwas die Stadt erkunden könnt und dann was Essen gehen sollt. Wir treffen uns dann um 16:30 pünktlich wieder hier am Bus auf dem Parkplatz der Sparkassen Arena", teilte er uns den Plan für die nächsten Stunden mit. Jannek warf mir sofort einen Blick zu und ich wusste was das hieß, dass wir zusammen losziehen werden. Ich nickte. Bei ihm wusste ich wenigstens, dass er sich damit zufrieden gibt, dass ich heute nicht sehr gesprächig bin und mich auch nicht ausfragen wird, was mit mir los ist. Kurz darauf wurde unsere Truppe noch um Alex, Kai, Jero und Pascal erweitert. Gemeinsam beschlossen wir erstmal in der Innenstadt nach einem Restaurant zu suchen.