Kapitel 4 - Die Beichte - Teil 2

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Weil ich den Rest der Nacht damit verbracht hatte, mich auf meinem Bett hin und her zu wälzen, war ich am nächsten Morgen todmüde. Weder das kalte Wasser, das ich mir ins Gesicht klatschte, noch der schwarze Tee waren dazu in der Lage, die Schläfrigkeit auszutreiben, die sich wie ein Nebel in meinem Kopf festgesetzt hatte.

Da Kjell mir nicht gesagt hatte, wo ich ihn würde finden können, klapperte ich notgedrungen jedes der Zimmer ab, in denen er für gewöhnlich anzutreffen war. Beim vierten Versuch wurde ich endlich fündig.

Der Herr der Schatten hatte sich in einem zugemauerten und somit für die Öffentlichkeit unzugänglichen Turmzimmer zurückgezogen. Die Wände dieses Zimmers waren alle zugepflastert mit Tabellen, Glyphen und erstaunlich detailgetreuen Zeichnungen von Artefakten aus der Silberkammer. Einige verwaiste Spinnweben wehten entlang des Gemäuers, als ich auf Kjell zuschritt, der an einem Schreibtisch nahe des schmalen und einzigen Fensters saß und sich über ein Schriftstück gebeugt hatte. Ich musste mich erst räuspern, ehe er aufsah.

»Lange Nacht?«, fragte er.

Ich gab nur ein Brummen von mir, woraufhin er mir bedeutete, mich auf einen der beiden Stühle niederzulassen, die vor dem Schreibtisch standen. »Was hast du getrieben?«

Es war riskant, ausgerechnet den Mann anzulügen, der mir das Lügen beigebracht hatte. »Nichts. Konnte nur nicht schlafen.«

Kjell zog die Stirn kraus.

»Was?«, fragte ich gereizt.

»Lügst du mich an?«

Für einen kurzen, schwachen Moment zog ich in Erwägung, ihm alles darzulegen und ihm jedes Wort, das Svaorise und ich im Vertrauen gewechselt hatten, preiszugeben. Immerhin war ich gestern von Delphi und ihr überrumpelt worden und ich hatte mir auch nichts zuschulden kommen lassen. Nichts von dem, was ich von mir gegeben hatte, hätte Kjell auf irgendeine Weise sauer aufstoßen können. Aber wenn ich ihm davon erzählt hätte, hätte ich Svaorise verraten und ihr Vertrauen gebrochen und dazu war ich nicht in der Lage.

»Nein.«

»Wie du willst.« Kjell war wenig beeindruckt. »Ich wollte dir nur eine Chance geben, jetzt mit der Sprache herauszurücken, wo ich noch dazu geneigt bin, ein Auge zuzudrücken. Herausfinden werde ich es schließlich sowieso.«

Ich betete, dass Delphi recht behielt, und niemand - nicht einmal der Herr der Schatten - von dem Treffen erfahren würde. »Ich verheimliche dir nichts. Ich hatte wirklich bloß eine schlechte Nacht.«

Noch einmal musterte er mich prüfend, bevor sich seine Züge erweichten. »Nun gut, vielleicht irre ich mich ja. Misstrauen ist ein Laster meines Berufs und in letzter Zeit sehe ich überall Gespenster...« Er schüttelte den Kopf, als müsste er einen Gedanken vertreiben. »Aber das soll nicht deine Sorge sein. Es gibt ohnehin einiges für dich zu Lernen, das dir deine volle Konzentration abverlangen wird, angefangen hiermit«, sagte er und schob mir das Schriftstück zu, über das er sich zuvor gebeugt hatte. »Dies sind einige der bekannten Glyphen, die ich dem Pergament bereits entnommen habe. Es sind nicht viele, was bedeutet, die nächsten Wochen werden wir uns durch den Rest beißen müssen.«

»Wochen?«

»Wenn wir Glück haben. Vermutlich aber länger, denn nach dem zu urteilen, was ich bisher entziffert habe, bezweifle ich, dass es sich bloß um eine Beschreibung oder eine Anleitung über die Nutzung eines Artefakts handelt.«

»Was soll es sonst sein?«

»Ich bin mir noch nicht sicher.« In Kjells Augen schlich sich ein erregter Schimmer. »Aber wenn mich nicht alles täuscht, hast du etwas entdeckt, das weitaus wertvoller ist. Mehr kann ich darüber noch nicht sagen und ich möchte dich auch bitten, alles für dich zu behalten, was wir uns hier erarbeiten.«

Der Halbe Augur [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt