Kapitel 6 - Heilung

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Es war weder kalt noch warm im Spiegel, jener Zwischenwelt, die verschiedene Orte miteinander verband. Es wehte auch kein Wind, zumindest kein solcher, den ein gewöhnlicher Mensch hätte spüren können, denn er zog nicht an der Kleidung und zupfte nicht am Haar und dennoch toste hier ein unhörbarer Sturm, der mich tief unter der Haut berührte.

Meine Magie harmonisierte mit der des Spiegels und an den Grenzen meines Bewusstseins, dort, wo mein Schild aufhörte, da war ich Teil meiner Umgebung, Teil des Spiegels, und das fühlte sich an wie ein sonniger Frühlingsmorgen in der Küche mit Wolke oder ein Picknick mit Merle und Meggie unter blühenden Apfelbäumen.

Ich bog nach rechts ein. Der Spiegel, den ich anstrebte, war nur wenige Meter entfernt und darüber war ich sowohl erleichtert als auch enttäuscht. Mit hölzernen Bewegungen näherte ich mich ihm und als sich mein Blick darin verfing, da wurde mir gewahr, dass ich mit den schwarzen Adern, die mein Gesicht entstellten, weitaus weniger menschlich aussah, als ich es mir gewünscht hätte.

Die Silberkammer der Drasburg war in das müde Licht einer Fackel getaucht. Der Raum ähnelte dem im Palast sehr, mit Regalen, die ringsum standen, einem Tisch und einigen Truhen. Aber er war leerer.

Obwohl mich die wenigen Artefakte mit der gleichen Inbrunst zu sich riefen wie jene in Odir, verschwendete ich keine Zeit dort. Ich sah nur kurz nach der Büchsenuhr, um zu überprüfen, wie viele Minuten vergangen waren, bevor ich mich auch schon durch die Geheimgänge zwängte.

Auf dem Weg zum Studierzimmer der Baronin war mir ein leises Summen entgegengeweht und deshalb spähte ich zunächst durch das Guckloch ins Vorzimmer, um mich zu vergewissern, dass die Luft rein war. Die Distriktbaronin saß dort in einem der beiden Sessel und schien eingeschlafen zu sein, aber sie war nicht allein. Vor ihr hockte die burgeigene Heilerin Haven und hielt leise summend ihre Hand. Ein schwarzes Adergeflecht zog sich über ihre Fingerspitzen und floss über Maressas Arm.

Eine geraume Zeit lang musste ich mich in Geduld üben, bis Haven ihre Hand zurückzog und das Zimmer verließ. Erst dann krabbelte ich aus meinem Versteck. Für gewöhnlich kostete mich das nicht viel Zeit, doch an diesem Tag quälte ich mich mühsam voran und musste die Zähne zusammenbeißen, denn bei jeder unbedachten Bewegung machte sich der ziehende Schmerz in meinem Bauch bemerkbar. Ich war froh, als ich mich wieder aufrichten konnte.

»Maressa«, flüsterte ich.

Das weiße Haar der Baronin fiel ihr wellig über die Schultern und umrahmte ihr längliches, von feinen Falten durchzogenes Gesicht. Eigentlich sah sie noch genau so aus, wie vor einigen Monaten, als ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Dennoch spürte ich nun etwas, das ich zuvor nicht wahrgenommen hatte, eine Art unsichtbaren Dunst, der sie umgab und der mich dazu brachte, mich mit äußerster Vorsicht vor ihr hinzuknien. Fast so, als wäre sie aus Glas. Ihre Brust hob und senkte sich, dennoch tastete ich nach ihrem Puls. Er war sehr schwach.

Ich entschied, sie ruhen zu lassen, und sah mich um. Die Fenster standen offen und gewährten einer warmen Mittagsbrise Eintritt. Verkohlte Holzscheite glühten im Kamin vor sich hin.

Wie früher lagen Papiere auf dem Schreibtisch aus. Doch das Tintenfass stand offen und als ich es zuschrauben wollte, fiel mir auf, dass die Tinte bereits ausgetrocknet war. Ein aufgeschlagenes Buch lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich. Maressa hatte darin Steuerabgaben festgehalten. Der letzte Eintrag war eine Woche her und sie hatte ihn mitten im Satz abgebrochen...

Die Baronin gab ein leises Seufzen von sich und sofort hockte ich mich wieder vor ihr hin. »Maressa.«

Blinzelnd öffnete sie die Augen. Ihr Blick fiel umgehend auf mich, aber es dauerte ein paar Atemzüge, bevor sie mich wiedererkannte. »Ares? Was machst du denn hier?«

Der Halbe Augur [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt