DREI

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JETZT

Ich weiß nicht, wohin ich möchte.

Es ist mir noch nie leichtgefallen, Entscheidungen zu treffen, vor allem nicht schnell. Gerade ist alles neblig. Ich fühle mich, als würde ich auf dem höchsten Wolkenkratzer stehen und die Wolken tatsächlich berühren, aber sie sind nur kalt und nass. Eine Enttäuschung.

Wie ich.

Das Rattern des Zuges durchbricht die Stille der Nacht. Es nistet sich in mir ein, immer in Bewegung. Ja, meine Gedanken sind rasend schnell. Und auch meine Worte lassen mich nicht im Stich, nur Andere. Sie prügeln auf mich ein, durchgängig, schlagen Wellen in meinem Kopf, die immer höher werden.

Draußen regnet es noch immer. Überhaupt hört es nie auf. Es ist, als hätte das Glück des Lebens mir von einem Tag auf den anderen den Rücken zugekehrt und dabei das gute Wetter mit sich gerissen.

Und du, du rennst durch sonnenbeschienene Felder, breitest die Arme aus, streckst deinen Körper der Freiheit entgegen.

Es gibt da diese Wand, in meinen Träumen und in der Realität. Sie ist unsichtbar und doch strahlt sie eine tiefgreifende Dunkelheit aus. Sie lässt mich schrumpfen.

Später laufe ich durch den Wald. Das Licht des Vollmondes ergießt sich über die kahlen Bäume und lässt seine Flecken auf dem Boden tanzen. Im Unterholz knackt es. Die Jahreszeit lässt es nicht zu, dass ich mich hier verstecke. Dabei sucht mein Herz nach einem Ort, um noch kleiner zu werden und nie wiederzukommen.

Ich werde dunkler und leiser wie ein verschwindender Schneesturm. Wirbele am Himmel und lasse meine grauweißen Flocken fallen, voller Wut und Stärke, bis ich mich schließlich, vom Leben gedämpft, zurückziehe und die Wolken als Vorhang nutze. Die Stille ist meine neue Sprache, ohrenbetäubend.

Ich lasse mich auf einen Baumstamm sinken. Er ist glitschig unter meinen Fingern. Das Gesicht gen Himmel gerichtet schließe ich die Augen und öffne die Arme. Strecke mich Richtung Universum, Richtung Unendlichkeit, in der Hoffnung, dass es mich aufnimmt und meine Geschichte verwischt.

Eigentlich möchte ich nicht sein, wer ich jetzt bin. Und eigentlich bin ich auch ganz anders.

Aber da bist auch du, und das verändert etwas. Ich wünsche mir, dass mein Du ein anderes wird.

Nacht für Nacht fülle ich ganze Notizbücher mit leeren Gedanken, während der Sternenhimmel durch mein Fenster fällt. Es hat etwas Beruhigendes, einfach nur zu schreiben, die Worte fließen zu lassen, ohne wirklich darüber nachzudenken. Die Notizbücher staple ich feinsäuberlich in der Schublade meines Nachttischs. Ich mag den Gedanken, dass manche Geschichten bleiben- nur unsere nicht.

Vielleicht war die Reaktion von dir mit mir, unsere Explosion, dem Universum zu laut. Ein Grund mehr, die Worte in Zukunft in meinem Inneren aufzubewahren. Trotzdem würde ich ihr gerne entgegentanzen, der Zukunft. Es ist noch nicht alles verloren.

Wir fallen in die Zukunft.

Das hast du immer gesagt. Aber ich besitze nur Tanzschuhe, kein Auffangnetz.

Der Wald nimmt mich auf. Ich bin an einem fremden Ort und vielleicht verliere ich gerade ein Stück meines Herzens an ihn. Ziehe Orte Menschen vor.

Ja, früher war es anders, ich war wie ein Feuerwerk für mich und andere Leute: hell, bunt und laut. Das liegt in der Familie.

Mein Bruder Miro, meine Schwester Isa und meine Eltern, alle gleichen einem Tornado, der durch die Gesellschaft wirbelt und seine gute Laune verteilt. Sie sind umgeben von Menschen, die wie Sonnenblumen wachsen und handeln. Immer lächelnd.

Ich habe diesem Verhalten nicht standgehalten. Habe meine Maske ausgezogen und darunter kahle Felder vorgefunden, kraterdurchbrochen. Meine Seele ist ein Minenfeld.

Natürlich bin ich nicht allein. Ich habe immer noch meine anderen Freunde. Nur bin ich nicht sicher, ob sie mich noch als ihren Freund ansehen. Ich habe mich zu weit hinter den Vorhang zurückgezogen, während sie die Bühne einnahmen.

Und du, du spieltest für mich immer die Hauptrolle, Valerie. Dabei warst du ihr nicht gewachsen. Du hast nur alles schlimmer gemacht.

Ich lausche den letzten Vögeln, die noch nicht aufgebrochen sind, weg von hier. Ihr Zwitschern bedeutet Frieden. Für einen Moment verharre ich atemlos und blende meine Gedanken aus. Es gibt nur die kahlen, tropfenden Äste über mir, die mir ihre Hände reichen, den vom Regen aufgeweichten Waldboden, das Mondlicht, das mit den Schatten spielt.

Einatmen. Das hier ist auch das Leben. Ich bin am Leben. Ich bleibe. Ausatmen.

Die Natur war schon immer ein Stück Zuhause. Die Berge rufen nach mir.

Und dann kommt er, ohne Worte, leisen Schrittes in mein Leben getänzelt.

Aber bis dahin vergehen Monate.

Sie fliegen mit seidenen Flügeln davon, versinken in Stille und Einsamkeit, in Natur und Gedanken. Ich bleibe im Schatten, selbst, wenn ich ab und zu nach den Farben des Himmels greife. Wenn ein kleiner Funken Hoffnung aufglimmt.

Dann ist plötzlich Februar und es regnet.

Ich sitze am See. Meine Gedanken tun weh. Schon wieder. Eifersucht und Schmerz nehmen mich ein, jagen ihre Zähne in mein Herz und verschlingen es. Ich fühle mich schrecklich schuldig, weil ich dich nicht halten konnte und nun nicht gehen lassen kann.

Ich verliere mich selbst.

Doch dann ist er auf einmal da, setzt sich neben mich auf den Steg, barfuß, die Arme um die Knie schlingend und das Kinn darauf gestützt. Er schweigt. Ich schweige. Es fühlt sich gut an.

Mein Blick gleitet über die Wellen des graublauen Sees, in dem sich der bewölkte Himmel spiegelt. Ein Bild der Unruhe. Dann sehe ich zu dem Jungen neben mir, der ebenfalls den Himmel im Wasser beobachtet. Seine blauen Augen sind wachsam, sein schmaler Mund zu einem geraden Strich verzogen. Er ist konzentriert. Die Blässe seiner Haut erinnert mich an unbeschriebenes Papier. Platz für neue Geschichten.

Ich habe mir oft vorgestellt, wie es wäre, deine Haut mit meinen Lippen zu beschreiben.

Nur hatten die Anderen immer mehr Worte als ich.

Es ist Zeit für meine eigene Erzählung.

Ich drehe mich zu dem Jungen und reiche ihm meine Hand. Spreche meine ersten Worte seit Langem. „Ich bin Bronx. Wie heißt du?"

Als er antwortet, lächelt er. „Ich bin Finley. Freut mich, dich kennenzulernen."

DIE EINSAMKEIT DER STILLEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt