JETZT
Freitags- und samstagsnachmittags arbeite ich in dem kleinen Plattenladen um die Ecke. Heute kommen nur wenige Interessierte vorbei. Es ist der letzte Schultag vor dem Karnevalswochenende, das in unserem Dorf einen hohen Stellenwert hat.
Die Leute bereiten sich wochenlang auf die Züge vor, die an einem so kleinen Ort wie unserem zwar eher mickrig ausfallen, dafür aber mit ganzer Leidenschaft geplant und durchgeführt werden.
Ich bin froh, dass die heutige Schicht mich vor dem Trubel auf dem Marktplatz bewahrt. Zwar tut es manchmal gut, sein echtes Gesicht hinter einer Maske und Tonnen von Schminke verstecken zu können- zumal meine Schwester Isa, was das Schminken angeht, wirklich ein ausgeprägtes Talent hat-, aber genauso gut kann ich heute auch allen Menschen aus dem Weg gehen, um überhaupt niemandem irgendeines meiner Gesichter zu zeigen.
Und ja, ich bin eine vielschichtige Persönlichkeit. Auch, wenn mein Bruder mich oftmals als gefühlslos beschreibt.
Ein weiterer Grund, warum ich heute nicht auf dem Marktplatz auftauchen möchte, ist, dass ich weiß, dass du da sein wirst. Seit Jahren verfolgst du dort dein Hobby als eines der einzigen Funkemariechen.
Es passt zu dir. Ohrenbetäubende Lautstärke, große Menschenmengen und Trubel sind dein Ding.
Währenddessen verkrieche ich mich in dem kleinen Laden und sortiere alte Platten. Ich liebe die Atmosphäre, die hier herrscht. Die dunklen, holzvertäfelten Wände und die gemusterten Teppiche verleihen dem kleinen, vollgestellten Verkaufsraum eine altmodische Atmosphäre. Vor den großen Fenstern hängen schwere, rote Samtvorhänge, die nur wenig Licht in das Zimmer lassen.
Regelmäßig lege ich neue Platten auf, um verschiedene Musikstile zu entdecken. An den Wänden hängen Vintage-Poster und abgelaufene Konzerttickets.
Eine Frau tritt hinter den Verkaufstresen, Madame Rouge. Sie geht inzwischen auf die Siebziger zu und führt diesen Laden mit Herz und Seele. Manchmal ertappe ich sie dabei, wie sie, wie in eine andere Zeit zurückversetzt, melancholisch lächelnd über die Sammlungen in den Regalen streicht. Dann schreibt sie immer in ein kleines, ledergebundenes Notizbuch, das in einer Umhängetasche Platz findet, die sie immer bei sich trägt.
Madame Rouge hat mir angeboten, heute früher Schluss zu machen, damit ich das Dorffest besuchen kann. Nun sieht sie mich aufmunternd an. „Möchtest du nicht ein bisschen mit deinen Freunden feiern, mon cherie?"
Freunde.
Ich frage mich, was Finley gerade macht.
Alte Musik bedeutet Melancholie. Eine halbe Stunde später finde ich mich auf unendlichen Getreidefeldern wieder. In der Ferne verschluckt der Nebel die Abendsonne.
Ich bin ein Dunkelgrünwald, der sich in Schwedens Seen spiegelt. Das Bild ist klar, alles unter der Oberfläche verwischt. Ich tauche in Blautöne.
Das Gemälde in meinem Zimmer zeigt Tannen über Tannen aus Pinselstrichen und mittendrin ein kleines, rotes Schwedenhäuschen. Dieses Bild bedeutet Zuhause.
Während ich das Getreide durch meine Finger streichen lasse, schweifen meine Gedanken. In meinen Ohren klingen Regentropfen, dann Stille. Ich lege mich nieder, werde unsichtbar zwischen dem Gold meiner Umgebung, meine Seele tiefschwarz.
Ich glaube, wenn ich wüsste, wer ich bin, wäre alles anders. Ich würde einfach zum Autoren meiner eigenen Geschichte werden und mir von niemandem den Stift wegnehmen lassen. Aber ich dulde keine Tintenflecke auf meinem Papier, keine undurchsichtigen Gefühle.
Das Grau des Himmels umfasst mich und saugt mich ein. Ich merke erst nach einer Weile, dass mir Tränen über das Gesicht laufen. Es fühlt sich an, als würden sie auf meiner Haut einfrieren.
Alles dunkel, aber durch die Fenster fliegen Grün und Licht.
Wenn alles verschwimmt, denke ich daran, dass der Himmel nie verschwindet und daran, dass der Sommer immer wiederkommt.
Als ich wieder aufstehe, sind Stunden vergangen.
Der Nachmittag breitet seine Flügel aus und fliegt leise davon, wird vom Abend abgelöst. Mein Notizbuch füllt sich, doch mein Herz bleibt leer.
In mir tobt ein wilder Ozean. Ich beiße mir auf die Lippen und versuche, die Wut aufzuhalten, die sich mit einem Mal in mir aufstaut. Ich habe das Gefühl, vor lauter Emotionen ersticken zu müssen.
Nicht weit entfernt ragt ein Haus in die Höhe, das Seelen beheimatet, die mit meiner verwandt sein sollten.
Der Gedanke, es betreten zu müssen, verursacht mir Platzangst. Mein Herz pocht und pocht und pocht. Ich atme schneller, kralle mich an dem nächsten Gegenstand fest, den ich zu fassen bekomme.
Dass meine Hände sich selbstständig machen, bekomme ich nicht wirklich mit. Haut trifft auf Stein, warmes Blut läuft meine Finger hinunter. Meine Brust zieht sich zusammen. Ich ersticke, werde zur Schlucht. Falle.
Die Zeit zieht weiter.
Ein Bus fährt durch die Dunkelheit der Nacht. Die Sterne breiten sich aus und greifen nach seinen Passagieren. Es regnet.
Wind peitscht durch die Kronen der Bäume, deren Blätter sich nicht halten können.
Ich starre durch das Fenster in eine andere Welt, lausche der Stille.
Jede im Bus anwesende Person ist mit sich selbst und der Welt hinter ihrem Handydisplay beschäftigt. Heute Nacht trägt keiner dieser Menschen ein Gesicht.
Mein Blick fällt auf die Hände, die in meinem Schoß liegen, ihre Knöchel von Wunden gezeichnet. Ich zerstöre mich selbst.
Straßen und Felder ziehen an mir vorbei und bleiben fremd. Mein Herz schlägt nicht für diesen Ort, nicht für dieses Dorf, in dem ich mich so fehl am Platz fühle.
Und du entdeckst sie für dich immer wieder und wieder neu, als Zuhause.
Meine Geschichte gehört nicht hier hin, nicht in diese Zeit.
Noch immer rufen die Berge nach mir. Ich sehe sie nachts in meinen Träumen, wie sie vor mir in die Höhe ragen, blau und unnahbar, die Spitzen umgeben von Nebel.
Dort fühle ich mich geborgen. Bergseen verschlucken Sorgen und erzählen Geschichten. Ich möchte das Gepäck meiner dunklen Stimmungen loswerden, das auf mir lastet, möchte ich es im See ertränken. Doch die heimatlichen Seen kennen meine Gedanken zu gut. Ich brauche etwas Neues. Wasser, das reinigt.
Meine Fingerknöchel schmerzen. Ich hefte den Blick weiterhin auf die Fensterscheibe und stelle mir vor, wie ich vom Blaugrün meiner Umgebung verschluckt werde. Vielleicht wäre es schön, einfach verschwinden zu können, um in eine andere Welt einzutreten. Eine, in der Herzen singen statt zu schreien und Hoffnung und Liebe an jeder Straßenecke lauern. Eine, in der es keine Ziele, sondern nur Wege gibt, um sich selbst zu entdecken.
Wie findet man nach Hause, wenn die Welt Einem den Rücken zukehrt?
Ich kenne die Antwort noch nicht.
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DIE EINSAMKEIT DER STILLE
Teen FictionBlaue Berge ragten vor mir in die Höhe wie Riesen, die die Angst vor ihren Schatten verloren hatten. Ich war bereit, sie zu erklimmen, sie zu überwinden. Die rote Sonne, die mich dahinter erwartete, war mir den Kampf wert. Ein Symbol von Freiheit un...