EINS

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DAMALS

Wäre ich eine Zeit, dann wäre ich ein nie endender Sommerabend.

Genauso ein Moment wie der jetzige, voller Freiheit und Abenteuerlust. Die Welt versinkt in orangerotem Licht, als die Sonne untergeht und sich über die Pferdekoppel ergießt. Unendliche Weite, in Gold getaucht. Klick. Ich mache ein Foto und halte den Moment fest, das Polaroidbild in meinen Händen.

Hinter mir höre ich Musik, die aus einem alten Radio dringt, und lautes Lachen, das wie Glocken klingt. Im nächsten Moment liegt ein Arm auf meiner Schulter. Valerie strahlt mich an und ihre blauen Augen blitzen. Sofort fange ich ebenfalls an zu lächeln und zeige sogar meine verhassten, schiefen Zähne. "Hey", sagt sie und schiebt sich eine blonde Locke aus der Stirn. "Was hast du jetzt für Pläne? Lust zu reiten?"

Ich hebe die Augenbrauen. Wenn sie das so gemeint hat, wie ich es verstehe-

"Oh nein." Schmunzelnd sieht sie mich an und verdreht die Augen. "Jetzt denk' doch nicht so zweideutig."

Ich verziehe den Mund zu einem Grinsen und zwinkere ihr zu. "Komm schon, Babe, du willst es doch auch."

Als Antwort bekomme ich einen Klaps auf den Hinterkopf.

Als wir die Pferde satteln, bricht Valerie auf einmal in lautes Gelächter aus. Überrascht sehe ich zu ihr und bemerke, dass sie mit ihrem Handy beschäftigt ist, statt sich um ihre Stute Monroe zu kümmern. Während ich den Sattel auf den breiten Pferderücken meines Hengstes Amarillo wuchte, frage ich: "Was hast du jetzt schon wieder angestellt?"

Sie seufzt laut. "Merk dir eins, Bronx. Jungs sind scheiße. Sie werfen dich weg und kriechen dann doch wieder zu dir zurück."

Aha. "Das ist ja nichts Neues."

Valerie hat ständig Probleme mit Jungs. Was wirklich erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass sie einer der besten Menschen ist, die ich kenne, und eine langwierige Beziehung wirklich mal verdient hätte. Aber vielleicht ist das ein Teil des Problems: Valerie macht sich nichts aus Zukunftsplänen oder überhaupt der Zeit an sich. Sie sagt immer, dass der Moment dazu da ist, gelebt zu werden- und im Grunde hat sie ja recht. Aber leider sieht sie nicht ein, dass es manchmal gut ist, für einen Augenblick beständig zu bleiben und nicht jede halbe Stunde alle Überlegungen über den Haufen zu werfen. Sie will etwas erleben und kriegt nie genug von dem Rausch des Neuen. Insgeheim glaube ich, dass in ihrer Welt ein anderes Zeitverhältnis herrscht.

Leider.

Wir waren schon immer verschieden. Beide bunt und laut, im Kern aber doch nicht gleich gestrickt. Und vielleicht sind wir aufgrund unserer unterschiedlichen Muster schließlich auseinandergetrieben.

Während Valerie immer nach mehr suchte, nach Licht und Sommer, begann ich, mich in mich zurückzuziehen und wurde zur stürmischen Winternacht statt zum friedlichen Sommerabend. Valerie dehnte sich aus und fand ihre Flügel, und ich faltete alles zusammen, meine Stimme, meine Gefühle und nach und nach sogar mein Herz. Und so weh es am Anfang auch tat, mit der Zeit lernte ich, dass weniger Platz für Emotionen auch weniger Schmerz bedeutete, was ich gern in Kauf nahm.

Ich wurde blasser, hellblau, vielleicht vergissmeinnichtfarben, und die Welt zu einem bergigen Land, in dessen Schatten ich mich verlor.

Das Bild der Pferdekoppel hängt noch heute über meinem Bett. 

DIE EINSAMKEIT DER STILLEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt