1. Joey

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Angestrengt kniff ich die Augen zusammen und sah mir die neuen Programmdetails an. Seit ich mit dieser neuen Grafik-Software arbeiten musste, dauerte die Bearbeitung meiner Zeichnungen deutlich länger und das nervte mich unglaublich. Was für eine Zeitverschwendung! Statt in meinem Büro zu hocken und mir die Schläfen zu massieren könnte ich stattdessen jetzt auch in der warmen Sommersonne mit meinem Grafik-Tablet im Stadtpark auf der Wiese liegen und dort arbeiten.

Gedankenverloren schob ich mir einen Bleistift zwischen die Zähne, während ich meine Hände hinter den Kopf legte und mich mit der Lehne meines Schreibtischstuhls weit nach hinten lehnte. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie Yugi, Téa, Tris und ich damals oft im Park gesessen hatten. Im Schatten unseres Lieblingsbaums hatten wir stundenlang Duelmonsters gespielt und über dies und das sinniert: über Duelmonsters-Strategien, über den Sinn und Unsinn von Hausaufgaben (hier musste ich lachen, denn eigentlich war es immer so gewesen, dass Téa und Yugi Tris und mich vom SINN dieser Freizeitberaubung überzeugen wollten, während für uns beide absolut klar war, dass dies eben völlig sinnLOS war), über unsere Zukunft. Diese Sequenzen unserer Gespräche hatte ich damals immer gehasst, denn (anders als die anderen drei) hatte ich zu dieser Zeit noch keine Pläne für meine Zukunft und das wäre sicherlich auch heute noch so, wäre ich an diesem einen Tag nicht völlig frustriert zum Ableisten von Sozialstunden in der Kaiba Corporation gelandet. Ich erinnerte mich noch genau an den Moment, der mein Leben für immer verändern sollte- auch wenn mir das in jenem Augenblick noch nicht bewusst war.

"Wheeler" Eins. Seine Stimme machte mich jetzt schon schier wahnsinnig. "Hast du dich auf dem Weg in deine Hundehütte verlaufen, oder was machst du hier?" Zwei. Noch ein beschissener Hundekommentar und ich würde ihm hier und jetzt eine reinhauen. "Mach wenigstens 'Wuff!', damit ich weiß, dass du mir folgen kannst" Drei. Mit einem Satz war ich bei seinem Schreibtisch, hinter dem er thronte und mich mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht ansah. Ich beugte mich über die Tischplatte. Plötzlich lagen meine Hände an seinem Kragen und ich stierte ihn an. "Ich bin nicht dein verdammter Hund, Kaiba. Ich habe es mir nicht ausgesucht ausgerechnet in deinem beschissenen Laden meine Sozialstunden abzuleisten, also piss mir nicht ans Bein, sonst...." spie ich ihm entgegen. "Sonst was?" sagte er ruhig und schob meine Hände ohne auch nur einen Funken Angst zur Seite. "Nur Hunde pissen Jemandem ans Bein, Wheeler. Außerdem sind wir uns sicher einig, dass du es dir nicht leisten kannst, hier rauszufliegen, oder?"

Ich schluckte schwer. Wieso nur hatte mich das Jugendgericht ausgerechnet in SEINE Firma geschickt?! Ich hielt das nach wie vor für einen der schlechtesten Witze, die mein Leben bisher über mich gemacht hatte. Alles Bitten und Betteln hatte jedoch nichts geholfen: ich MUSSTE meine 120 Sozialstunden hier ableisten. Wieso war ich auch nur so blöd gewesen und hatte mich (schon wieder) beim Klauen erwischen lassen? Es war nicht das erste Mal gewesen und hatten bisher Entschuldigungen und Reue-Bekundungen ausgereicht, so war dies das berühmte eine Mal zu viel gewesen. Dabei war es ja nicht mal so, als WOLLTE ich stehlen. Mein alter Herr versoff regelmäßig unser ganzes Geld und da ich schließlich von irgendwas leben musste, klaute ich mir meine Mahlzeiten in den umliegenden Supermärkten, Tankstellen und Kiosks zusammen: ein Schokoriegel hier, ein Brötchen dort usw. Sicherlich war es auch nicht förderlich gewesen, dass ich einige meiner Mitschüler um ihr Essensgeld erpresst hatte und auch öfter zuschlug, wenn ich dieses Geld eben nicht bekam. Ich war ein Rowdy, ein Sozialfall.

Bei dem Gedanken daran, spürte ich, wie sich Scham und Wut auf meine Brust legten. Mein Atem kam nur noch stoßweise. Ich zwang mich, ruhig zu atmen und dabei dachte ich an den anderen Seto Kaiba, den ich kennengelernt hatte- den Seto Kaiba, der sich für mich eingesetzt hatte, damit ich in seiner Firma endlich mein Talent einsetzen konnte und das kam so:

Nachdem Kaiba mich an einen seiner angestellten Hausmeister überstellt hatte, hörte und sah ich von ihm (ich nannte ihn damals Großkotz-Arsch) zunächst nichts mehr- was ich auch nicht bereute, im Gegenteil! Walter war ein mittelgroßer stämmiger Mann in seinen Vierzigern und zeigte mir, wo und wie ich meine Sozialstunden mit ihm zusammen abarbeiten würde. In meiner ersten Woche führte er mich einmal komplett durch alle Tätigkeitsbereiche der Firma: Abteilung für Finanzen und Controlling, Abteilung für Personalwesen, Marketingabteilung, die Abteilung für Design, Zeichenstudios usw. Am interessantesten für mich persönlich waren auch damals schon die Bereiche Design und Animation. Danach zeigte er mir den Putzmittelraum, den Heizungskeller und drehte mit mir eine Runde durch die Versorgungsetage der Kaiba Corporation. Hier gab es diverse Lager für Geräte und Werkzeuge aller Art, aber auch Leuchtmittel, Papierhandtücher und Flüssigseife für die Spender der Toiletten auf den jeweiligen Etagen usw.. Meine Aufgabe bestand vor allem darin, die Gebrauchsgüter wie Flüssigseife und Papierhandtücher aufzufüllen. Die Beleuchtung in den Etagen auf korrekte Funktion zu überprüfen usw. Ich bekam sogar ein eigenes Diensthandy für meine Arbeitszeit, auf dem Mitarbeiter mich direkt erreichen konnten, wenn etwas fehlte. In den ersten Tagen wurden Arbeitsaufträge von Walter durch mich mit mauligen Antworten und verdrehten Augen quittiert, aber anders als ich es gewohnt war, schien ihn dies nicht zu beeindrucken, denn er blieb stets freundlich und sachlich. Walter hatte wirklich eine Engelsgeduld mit mir und das rechnete ich ihm dann auch schnell hoch an, weshalb ich bereits nach ein paar Tagen weniger maulte und meine Augen nur noch selten verdrehte. Er erzählte immer wieder mal etwas aus seinem Privatleben und so erfuhr ich, dass er eine Tochter hatte, die nur unwesentlich jünger war als ich und (wie er es nannte) „auch etwas schwierig" war. Ich beschloss kurzerhand das „auch" zu ignorieren und konnte mir aber nun denken, woher seine Geduld im Umgang mit mir rührte.

In den nächsten Wochen wurde in der Abteilung für Grafik und Design umgebaut, weshalb ich vermehrt dort eingesetzt wurde. Ich löste nach der Schule alte Tapeten von den Wänden, brachte neue Tapeten an usw. Da mir Walter inzwischen so vertraute, dass ich überwiegend allein arbeiten durfte, wanderten meine Blicke immer mal wieder über die Arbeiten auf den Schreibtischen der Angestellten, mit denen ich mich mittlerweile sehr gut verstand, da auch ich gern zeichnete. „Hey Carla" sagte ich und deutete mit einem meiner Arbeitshandschuhe auf ihre neueste Skizze als sie mich mit gehobenen Augenbrauen und einem Lächeln auf den Lippen und in den Augen ansah. Plötzlich raufte sie sich ihre grün-blau gefärbten Haare. „Ja, der weiße Drache mit dem eiskalten Blick. Das Aushängeschild der neuen Werbekampagne." Genervt rollte sie auf ihrem Drehstuhl zu mir heran. „Das Vieh schafft mich noch" fügte sie zerknirscht an. Ich musste grinsen, denn Carla sah aus, als wären ein Tattoo- und Piercingstudio neben ihr explodiert: ihre Arme waren komplett tätowiert und ihre Ohren klimperten nur so vor Piercings. „Mhm" nuschelte ich „Vielleicht ein paar Schattierungen hier und da und ein dunklerer Hintergrund, damit der Weiße sich etwas besser abhebt?" schlug ich vorsichtig vor und Carlas Augenbraue rutschte nach oben, während sie gedankenverloren an dem Ring in ihrem Nasenflügel herumdrehte. Dann hellte sich ihr Gesicht auf und sie grinste mich an. „Joey, du hast wirklich Talent" lobte sie mich und aus den Augenwinkeln sah ich noch, wie Kaibas Mantel sich aufbauschte, als dieser an uns vorbei zum Aufzug rauschte.

Ab diesem Tag lungerte ich in meinen Pausen und nach Feierabend immer öfter in den Abteilungen für Grafik und Design und in den Animation-Studios herum. Dort unterhielt ich mich mit den Kolleg*innen über verschiedene Zeichentechniken, Software zur digitalen Bearbeitung von Zeichnungen usw. Ab und an durfte ich sogar selbst etwas zeichnen. An einem Samstag-Vormittag während meiner Pause (die offiziell schon seit 10 Minuten vorbei war, aber was machte das schon?) klingelte plötzlich mein Diensthandy „Hausmeisterei Kaiba Corporation, Wheeler. Was gibt's?" brabbelte ich ins Handy, das ich mir notdürftig zwischen Wange und Schulter geklemmt hatte, um meine Skizze am Tablet fertig zu schattieren. „Wheeler!" schnauzte mich Seto Kaibas Stimme durch den Lautsprecher meines Telefons an „Wenn du nicht in genau 5 Minuten bei mir im Büro bist, mache ich aus dir einen Bettvorleger- und wehe du schleppst mir Flöhe ein!" Aufgelegt. Ohne meine Antwort abzuwarten. Ich schnaubte, straffte meine Schultern, verabschiedete mich von den Kolleg*innen und stapfte zum Aufzug, der mich nach ganz oben zu Kaibas Büro bringen würde. Was bildete sich dieser Arroganz-Bolzen eigentlich ein?!

Ein paar Momente später überraschte mich Kaiba und es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein.


Was wir nicht laut sagenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt