2. Seto

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Ich war wirklich jeden Tag umgeben von inkompetenten Vollidioten! Wieder mal saß ich auf meinem Schreibtischstuhl und massierte mir die Nasenwurzel, während ich aus dem Blister eine weitere Schmerztablette in meine Hand drückte. Kopf in den Nacken legen, schlucken, fertig. Mittlerweile brauchte ich nicht mal einen Schluck Wasser dazu. „Nein, ich kümmere mich selbst darum. Wieso, können Sie sich sicher denken" schnarrte ich in mein Smartphone, drückte genervt den roten Hörer und knallte das Gerät auf die Tischplatte. Wieso hatte ich eigentlich tausende von Angestellten (davon allein knapp 1.000 hier in der Hauptzentrale der Kaiba Corporation), wenn ich am Ende doch das meiste allein regeln musste? Wütend schnaubte ich und versuchte, den pochenden Schmerz hinter meinen Schläfen zu ignorieren. Mein Blick glitt durch mein Büro und blieb dann an einem Poster vom Schwarzen Rotaugendrachen hängen. Der Drache schwang sich gerade majestätisch in die Luft und in seinen Augen loderte ein Feuer: Leidenschaft!

Als der wandelnde Flohzirkus, anderen besser bekannt als Joey Wheeler, die Skizze hierfür vor knapp 3 Jahren gezeichnet hatte, lungerte er sicher wieder mit einem Bleistift zwischen den Zähnen irgendwo in den Animation-Studios rum. Ich konnte ihn förmlich vor mir sehen, wie er grinsend da saß. Wissend, dass seine Pause schon längst vorbei war und ich ihn dabei besser nicht erwischen sollte. Immerhin leistete er bei mir in der Firma eine nicht unerhebliche Zahl von Sozialstunden ab. Ich selbst hatte die Jugendrichterin damals darum gebeten, dass er diese Stunden in der Kaiba Corp. Abarbeiten durfte. Ich muss zugeben, dass mir die Vorstellung, ihn etwas herumzuscheuchen, damals ein Gefühl der Genugtuung gab. Immerhin hatte mich sein bester Freund kurz zuvor bei einem Duelmonsters-Duell besiegt und ich verlor eben nicht gern. Dass er sich in der Schule wochenlang über meine Niederlage lustig gemacht hatte, ließ in mir ein wenig Rachedurst aufsteigen. Seine Sozialstunden waren für mich die perfekte Gelegenheit meinen Durst zu stillen. Allerdings hatte sich Wheeler noch nie wirklich was aus Regeln und Vorgaben gemacht und irgendwie mochte ich das schon damals an ihm (auch wenn ich das natürlich niemals zugebeben hätte. Würde ich das heute öffentlich zugeben?- hmmmm....).

Nachdem ich ihn quasi „eingestellt" hatte, teilte ich ihm die Rahmenbedingungen für das Ableisten seiner Sozialstunden mit. Er würde einen der Hausmeister unterstützen (dieser kannte sich aus familiären Gründen bestens mit aufmüpfigen Teenagern aus). Ich teilte dem Köter also mit, dass er in den Ferien von Montag bis Freitag jeden Tag volle 8 Stunden arbeiten würde, und während der Schulzeit jeweils nach der Schule bis abends um 18 Uhr. An jedem Samstag wieder 8 Stunden. "Ich bin nicht dein verdammter Hund, Kaiba. Ich habe es mir nicht ausgesucht ausgerechnet in deinem beschissenen Laden meine Sozialstunden abzuleisten, also piss mir nicht ans Bein, sonst...." spie er mir entgegen. "Sonst was?" sagte ich ruhig und schob seine Hände, die mich bereits am Kragen packten, betont gelassen zur Seite. "Nur Hunde pissen" Ich betonte das Wort extra ironisch „jemandem ans Bein, Wheeler. Außerdem sind wir uns sicher einig, dass du es dir nicht leisten kannst, hier rauszufliegen, oder?"

Fortan wieselte er beinahe jeden Tag durch meine Firma. Überall konnte ich seine Pfotenabdrücke sehen. Zum Glück schien er wenigstens stubenrein zu sein. In den ersten Tagen zeigte ihm Walter die gesamte Kaiba Corporation und ich muss zugeben, dass es mich erstaunte, dass sein Hundehirn sich offensichtlich doch das meiste merken konnte, was man ihm sagte. Wirklich erstaunlich! Ich nutzte jede Gelegenheit, ihn zu provozieren und genoss es wahnsinnig, dass er sich darauf immer so bereitwillig einließ. Entgegen meiner anfänglichen Befürchtungen schien er seine Sache wirklich gut zu machen und Walter war nach kurzer Zeit sogar sehr zufrieden mit dem Zeckentaxi: Wheeler erledigte seine Aufgaben gut. Was mir sauer aufstieß war, dass er zunehmend mehr Zeit bei meinen Angestellten in den Abteilungen für Zeichnungen und Animation verbrachte. Ich wollte nicht, dass er meine Angestellten von der Arbeit abhielt. Also beschloss ich, dort öfter vorbei zu schauen und ihn an seine eigentliche Arbeit zu erinnern. „Hält sie unser Aushilfshausmeister von der Arbeit ab?" fragte ich eine der Angestellten eines Tages im Aufzug. Sie sah mit ihren bunten Haaren, den Piercings und den tätowierten Armen aus wie ein kleiner Punk. Ich rümpfte innerlich die Nase und konnte nur hoffen, dass sie kompetenter war als sie aussah. Bei meinen Worten fuhr sie zusammen und wirkte ehrlich zerknirscht. Als ob ich nicht wüsste, was in meiner eigenen Firma vorging. Lächerlich! Sie fing an zu stottern und ich liebte es jetzt schon. „N-nein, Herr Kaiba." „Das will ich hoffen." Meine Stimme hallte von den Glaswänden des Aufzugs wider. „Immerhin bezahle ich Sie nicht dafür, mit einem Handwerker über den hiesigen Flurfunk zu debattieren" Als sich die Türen öffneten, rauschten einige meiner Angestellte (sichtlich erleichtert) zurück in ihre Büros. Nur diese Punkerin und ich waren noch dort. „Wissen Sie... Joey hat wirklich Talent was Zeichnen und Animationen angeht. Er hat ein Auge für's Detail und hat uns in den letzten Wochen auf so manche gute Idee gebracht" ein nervöses Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, aber natürlich traute sie sich nicht, mir ins Gesicht zu sehen. Meine Augenbraue schnellte nach oben als ich kühl erwiderte „Vielleicht sollte ich dann lieber ihn einstellen." Betreten sah sie zu Boden und war beinahe mit Lichtgeschwindigkeit aus dem Aufzug verschwunden, als dieser anhielt.

Wheeler hatte also ein Händchen für Kunst. Das würde ich mir doch später mal selbst ansehen. Kurz vor Feierabend schlenderte ich also durch die besagte Abteilung und sah mich um. An den Wänden hingen Poster und Flyer und in den Schaukästen wurden fertig designte Duelmonster-Karten präsentiert. Auch Spielzeugfiguren standen dort in den gläsernen Vitrinen. Der schwarze Rotaugendrache spie Feuer und sah dabei gefährlich und erhaben aus. Leider musste ich bei diesem Drachen immer automatisch an den blonden Köter denken, immerhin war dies sein Lieblingsmonster. Als ich seine Stimme hörte, blieb ich stehen. „Hey Carla" begrüßte er seine Kollegin und an ihrer Stimme erkannte ich, dass es die junge Frau war, mit der ich heute zuvor im Aufzug gesprochen hatte. „Ja, der weiße Drache mit dem eiskalten Blick. Das Aushängeschild der neuen Werbekampagne. Das Vieh schafft mich noch" sagte sie und ich musste mir ein wütendes Schnauben verkneifen. Der weiße Drache mit dem eiskalten Blick war doch kein Vieh! Ob man so etwas eine künstlerische Schaffenskrise nannte? Carlas Stimme jedenfalls klang tatsächlich verzweifelt. Gespannt lauschte ich weiter. „Mhm" nuschelte der Streuner „Vielleicht ein paar Schattierungen hier und da und ein dunklerer Hintergrund, damit der Weiße sich etwas besser abhebt?" Erstaunt hob ich die Augenbrauen. Fast bekam ich den Eindruck, dass Wheelers IQ doch über dem einer Dose Hundefutter rangieren könnte und meine Mundwinkel begannen leicht zu zucken. Vielleicht konnte ich das sogar für mich nutzen. Noch während ich den Gang zum Aufzug entlang rauschte, hörte ich Carlas Stimme, die voller Bewunderung war „Joey, du hast wirklich Talent".

Was wir nicht laut sagenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt