4. Seto

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Die Tage verstrichen. Eine einzige Aneinanderreihung von Meetings, Interviews, Statistiken. Einzig die bevorstehenden jährlichen Mitarbeitergespräche sorgten für Abwechslung in meinem Alltag: eine Abwechslung, auf die ich gut und gerne verzichten konnte! Ich seufzte und bereitete mich innerlich auf das Unvermeidliche vor, als auch schon die betont freundliche Stimme meiner Sekretärin durch die Gegensprechanlage hallte. „Mister Kaiba, Herr Futokushi ist jetzt da" verkündete ihr hoffnungslos überschminkter Mund. Innerlich schrie ich auf. Der Leiter der Marketingabteilung ließ es sich in den Mitarbeitergesprächen nie nehmen, sich mit seinen Erfolgen selbst zu rühmen- immer in der Hoffnung auf eine Lohnerhöhung und auf der Jagd nach meiner Anerkennung. Ich hasste Menschen wie ihn. Er war ein unangenehmer Arschkriecher, jedoch eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Ich verdrehte die Augen, rief die entsprechende Mitarbeiterakte auf meinem Laptop auf und ließ Herrn Futokushi schließlich hereinbitten.

Während er eine nicht enden wollende Salve über seine Erfolge auf mich abschoss, schweiften meine Gedanken nach und nach zu diesem einen Tag, der mein Leben nachhaltig verändern sollte.


Was hatte es bitte mit diesem angeblichen Talent auf sich? Konnte Wheeler etwa Männchen machen? Ich bahnte mir meinen Weg zum Schreibtisch unseres Paradiesvogels aus den Animation-Studios (ich glaube, ihr Name war Carla), um mich selbst von den Fähigkeiten der Flohschleuder zu überzeugen. Als ich mich ihr näherte, verlor ihr Gesicht schlagartig ein wenig Farbe und sie war sichtlich bemüht, dass ihre Mimik nicht komplett entgleiste. Meine Mundwinkel zuckten amüsiert, als sie hastig aufsprang und eine Verbeugung andeutete. „Wie ist der aktuelle Stand in Sachen Werbekampagne?" Ich hatte mich noch nie mit Begrüßungen oder Smalltalk aufgehalten. Sie begann, unruhig auf der Stelle zu treten, hielt meinem Blick aber stand. „Wir haben das Design des Weißen Drachen noch einmal überarbeitet. Wenn Sie einen Blick darauf werfen möchten..." Sie wühlte mit zittrigen Händen in den Zeichnungen auf ihrem Schreibtisch herum. Was für ein Chaos! Ich rümpfte die Nase. Waren alle meiner kreativen Mitarbeiter so unorganisiert? Mein starrer Blick klebte weithin auf der jungen Frau, deren Ohren sich daraufhin leicht rot färbten. Schließlich hielt sie eine Zeichnung hoch, auf der sich der Weiße Drache majestätisch in die Luft schraubte. Die Schuppen wurden stärker akzentuiert, was das Monster noch lebendiger wirken ließ und seine blauen Augen bildeten einen perfekten Kontrast zum schwarz-grauen Hintergrund. War das etwa Wheelers Idee gewesen? Vielleicht hatte ich den Köter tatsächlich etwas unterschätzt. „Sehen Sie zu, dass die Zeichnungen schnellstmöglich an die Druckerei gehen. Wir sind spät dran." Damit ließ ich meine Mitarbeiterin, ohne weitere Worte, stehen und machte mich auf den Weg zurück in mein Büro. Wollen doch mal sehen, wo sich unser kleinkrimineller Aushilfshausmeister aktuell herumtreibt...

Meine Augen verfolgten jede seiner Bewegungen. Wie er dort hinter einer Kiste saß: Auf einem Bleistift kauend, während er auf seine Skizze vom Schwarzen Rotaugendrache starrte. Seine Aufgabe, den Inhalt der Kisten zu überprüfen und zu erfassen, ignorierte er gekonnt. Wheeler hatte wirklich eine merkwürdige Auffassung davon, wie eine Inventur funktionierte! Meine Hände schlossen sich um meine Armlehnen, sodass meine Knöchel weiß hervortraten. Der Blondschopf grinste verträumt, während sein Bleistift über das Papier tanzte.

Ich drückte den Knopf meiner Sprechanlage „Wheeler!" Angesprochener sprang mit einem erschrockenen Schrei hoch und schaute sich gehetzt um. „Alter, bist du die StaSi?!" empörte er sich, als sich sein Gesicht vor die Überwachungskamera schob, die er gerade entdeckt hatte. Seine braunen Augen nahmen für einen kurzen Moment den kompletten Bildschirm ein und ich schluckte. Mir war bisher nie aufgefallen, wie klar und tief sein Blick war. Ich schüttelte den Kopf über diesen Gedanken und mein Finger drückte erneut auf den Knopf „Eine Inventur in der Kaiba Corporation sieht für gewöhnlich anders aus" tropfte meine sarkastische Stimme durch den Lautsprecher. Seine Augen funkelten mich herausfordernd an. „Mach doch deine dämliche Inventur selbst, wenn du dich damit so gut auskennst, Geldsack!" spie er mir entgegen und reckte sein Kinn in die Kamera. Jetzt hatte ich endgültig genug!

Wenige Augenblicke später knallte ich die Tür des Lagers hinter mir zu. Mit ein paar schnellen Schritten durchquerte ich den Raum und verschränkte meine Arme vor der Brust, während mich Wheeler trotzig ansah. Er saß, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, auf einer der Metallkiste und ließ die Beine baumeln. Auf seinem Schoß die Skizze vom Schwarzen Rotaugendrachen. In seinem Mund ein Bleistift, auf dessen Ende er herum kaute. In seiner Hand ein abgenutzter Radiergummi. Ich durchbohrte ihn weiterhin mit einem kalten Blick, den er stumm und trotzig erwiderte, und trat bis an die Kiste heran. Wheeler rutschte weiter an die Wand, bis er zwischen mir und eben dieser eingeklemmt war. Links und rechts von uns stapelten sich Kisten bis unter die Decke. „Was willst du, Kaiba?" nuschelte er. Betont langsam hob ich die Hand und er zog die Luft zwischen die Zähne, während seine Augen meiner Bewegung folgten. Ich beugte mich nach vorn, sodass unsere Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander trennten und schaute in seine braunen Augen, in denen es wieder funkelte. Seine Iris war Kaffeebraun mit verstreuten Sprenkeln aus Bernsteingelb. Diese Farbkombination hatte ich so noch nie bei Jemandem gesehen. Die Farben schienen regelrecht ineinander zu verlaufen... Ich schüttelte den Gedanken ab und nahm ihm den Bleistift aus dem Mund, bevor ich mich wieder aufrichtete. „Wenn du mich schon anbellst, dann wenigstens ohne Kauknochen im Mund, Wheeler" Zu meiner Überraschung klang meine Stimme längst nicht so barsch, wie ich wollte. Der Blondschopf schien für einen kurzen Moment irritiert zu sein, hatte sich aber schnell wieder im Griff. „Wow, schon wieder die Hundenummer. Du bist mindestens so kreativ, wie ein trockenes Brötchen, Kaiba!" Er reckte wieder sein Kinn, als er von der Kiste rutschte und versuchte, sich an mir vorbei schieben. Es blieb bei einem Versuch, denn ich pinnte ihn mit meinen Armen rechts und links neben seinem Kopf gegen die aufeinandergestapelten Kisten. Wurde er gerade etwa rot? Er wandte den Blick ab und begann zu zappeln. Seine Haare hingen ihm in die Stirn und verdeckten die Sicht auf seine Augen. Minze! Schoss es mir durch den Kopf, als ich seinen Atem roch, der mittlerweile stoßweise seine Lungen verließ. Hatte Wheeler etwa die Dreistigkeit sich hier auch noch während der Arbeit die Zähne zu putzen...?! Ich schluckte. Dieser Typ war wirklich unfassbar.

„Hör auf mit dem Quatsch und lass mich vorbei, du Tyrann" Der Kleinere legte seine Hände auf meine Brust und versuchte, den Blick immer noch nach unten gerichtet, mich von sich zu schieben. Seine schmalen langen Finger drückten gegen meine Haut und hinterließen ein leichtes Kribbeln. Sie waren warm und... Jetzt verlor ich endgültig die Geduld und stieß den Blonden von mir weg. Was bildete der sich eigentlich ein, mich einfach anzufassen? Ich schnaubte, als meine Augen seinen Blick einfingen- Verunsicherung? Für einen kurzen Moment blickte er mich an wie ein scheues Reh, das auf der Flucht vor dem Wolf war, nur um mich dann wütend anzufunkeln. „Alter, ich bin nicht dein Eigentum und schon gar nicht dein Boxsack!" Er machte einen schnellen Schritt auf mich zu, schob mich mit einer kräftigen Bewegung zur Seite und stürmte an mir vorbei aus dem Lager.

Meine Hand glitt gedankenverloren zu der Stelle auf der meiner Brust, auf der vor ein paar Sekunden noch seine Finger lagen. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und ich zitterte leicht. Walter sollte unbedingt mal die Zentralheizung checken. Diese Temperaturschwankungen waren völlig inakzeptabel!

Was wir nicht laut sagenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt