5. Joey

35 2 19
                                    

Tokyo, 2:47 Uhr.

Es war eine dieser Nächte, in denen ich keinen Schlaf fand. Eine dieser Nächte, in denen mich meine Erinnerungen festhielten. Erinnerungen an saphirblaue Augen, braune Haare, Krawatten und den Duft von Aftershave...

Ich schlug mir die Hände vor das Gesicht und spürte meine feuchten Wangen unter meinen Fingern. Ich schwitzte, obwohl die Klimaanlage in meinem Hotelzimmer lief. Kein Wunder: die Nächte im August zeichneten sich hier in Japan oft durch Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit aus, die zwischen den hohen Gebäuden der Großstadt noch unerträglicher war als anderswo. Und... Ich weinte. Mal wieder. Frustriert schlug ich mir die flachen Hände gegen die Wangen. Ich fuhr mir seufzend mit der Hand durch die Haare und setzte mich dann ganz auf. An Schlaf war sowieso nicht mehr zu denken, also erhob ich mich und ließ meinen Blick durch das Fenster schweifen. Die grellen Lichter der Leuchtreklamen blendeten mich. Ich rieb mir die Augen und erfuhr währenddessen, dass der Conbini nebenan in dieser Woche Wasabi-Paste im Angebot hatte. Das war eine Information, auf die ich um 3 Uhr nachts auch gut und gerne hätte verzichten können. Gähnend drehte ich mich zu meinem Koffer und kramte ein frisches T-Shirt hervor, da meines komplett durchgeschwitzt war, als ich plötzlich aus den Augenwinkeln sah, wie ein mir nur allzu bekanntes Firmenlogo über die Anzeigetafel huschte. „KC" - Kaiba Corporation. Hatte ich nicht mal hier meine Ruhe vor ihm?! Genervt pfefferte ich das nasse Shirt auf den Boden und strampelte mich in meine Jeans. Zeitgleich zog ich mir das frische T-Shirt an und stolperte auf den Flur hinaus. Ich musste hier raus. Jetzt!

Die Straßen in Tokyo waren nie leer. Auch um diese Zeit kamen mir Menschen in Businesskleidung entgegen und dabei fiel mir ein, dass ich ja in etwa sechs Stunden mein Projekt vor eben solchen Schlipsträgern vorstellen musste. Allein die Aussicht darauf ließ mich schon die Augen verdrehen. Wie ich diese aufgeblasenen Geldsäcke hasste, die noch dazu NIE Ahnung von kreativen Prozessen hatten- geschweige denn von meiner Arbeit.

„Herr Wheeler, wie schätzen Sie den Erfolg der Kampagne ein?" -- „Woher soll ICH das wissen?! Ich zeichne Skizzen für Merch und Poster und so weiter. Machen Sie IHREN Job..."

„Herr Wheeler, arbeiten Sie ressourcenschonend?" -- „Meine Ressourcen wären deutlich geschonter, wenn ich meine wertvolle Zeit nicht so oft mit Leuten wie Ihnen verplempern müsste..."

Manchmal klang ich schon fast wie er.

Abrupt blieb ich stehen und wäre fast von einem diesen Anzugträger umgerannt worden, der sich im Vorbeigehen noch entschuldigte. Nach einem einstündigen Spaziergang durch das nächtliche Tokyo, befand ich mich also wieder in meinem Hotelzimmer und scrollte gedankenverloren durch die Kontakte in meinem Handy.

Kaiba, Seto

Spitzname: Geldsack

008170 ....

Ob er noch immer diese Nummer hatte? Wann Wie lange war es jetzt her, dass wir telefoniert hatten...?

Mein Diensthandy klingelte und die angezeigte Nummer verriet mir, dass der Anruf direkt aus dem Elfenbeinturm kam. Mein Mund verzog sich zu einem hämischen Grinsen, als ich auf das klingelnde Gerät in meiner Hand starrte, das ich geflissentlich einfach weiterklingeln ließ. Was bildete sich dieser Idiot eigentlich ein? Es waren noch genau 5 Minuten bis Feierabend und sein nächster dämlicher „Spezialauftrag" konnte gut und gern bis morgen warten. Überhaupt: was war DAS denn bitte für eine bescheuerte Aktion eben im Lagerraum? Wenn ich Lust auf Dauerüberwachung hätte, dann würde ich mich jetzt bei „Terrace House" an einem beheizten Pool räkeln und keine Sozialstunden ableisten.

Wie Kaiba wohl in Badehose aussieht?

Ich spürte, wie meine Ohren beim Gedanken an seine breiten Schultern und seine kräftigen Arme leicht zu glühen begannen. Der Duft seines Aftershaves stieg mir plötzlich in die Nase und meine Hände begannen etwas zu zittern.

„Bestimmt trägt er sogar Badehosen mit seinem weißen Drachen" murmelte ich abwesend vor mich hin und prustete bei dem Gedanken lauthals los, sodass mir die Tränen kamen.

Jetzt musste ich es nur noch schaffen, unentdeckt zum Ausgang zu gelangen und dann wäre der nächste Tag voller Sklavenarbeit geschafft...

Plötzlich spürte ich einen festen Griff am Kragen meines T-Shirts und wurde unsanft herum gerissen. „Wohin so eilig, Flohschleuder?" Ein intensiver Blick aus blauen Augen musterte mich und ein hämisches Grinsen verriet mir, dass es sich um den Sklaventreiber höchstpersönlich handelte. Sofort kroch wieder diese Wut in mir hoch und ich riss mich mit einer schnellen Drehung los. „Im Gegensatz zu DIR, kann ICH die Uhr lesen, Geldsack." presste ich mürrisch hervor und wollte gerade meinen Weg zu den großen Glastüren fortsetzen, als mich eine große Hand an der Schulter erneut herum riss. Wütend streifte ich seine Hand ab und stierte ihn an. Auf seinem Gesicht lag der übliche kühle Ausdruck, aber seine Augen funkelten belustigt. Wieso musste er mich eigentlich neuerdings ständig anfassen? Ein freches Grinsen stahl sich auf meine Lippen, bevor ich meine Rücken durchdrückte und meine letzte verbale Salve gegen den Arschkeks abfeuerte. „Du kannst mich ja morgen wieder sexuell belästigen. Ich mach' jetzt Feierabend." Und damit ließ ich ihn ohne einen weiteren Blick und mit klopfendem Herzen stehen.

In den nächsten Tagen sah und hörte ich von Kaiba kaum etwas. Arbeitsaufträge wurden mir ausnahmslos von Walter mitgeteilt und durch die räumliche Distanz von einigen Stockwerken, war ich vom Elfenbeinturm so ziemlich abgeschirmt. Was unsere Prinzessin dort oben wohl trieb? Immer wieder ertappte ich mich dabei, mir fast schon zu wünschen, er würde mit seinem lächerlichen Mantel an mir vorbei rauschen, aber nichts dergleichen geschah. Die Renovierung in der Abteilung von Carla war inzwischen abgeschlossen, dennoch gab es viel zu tun. Hier und da ein paar Verbrauchsgüter auffüllen, ein paar Leuchtmittel austauschen und vor allem der Abschluss der Inventur, an der ich gerade wieder saß. Den ganzen Vormittag hatte ich im Lager Kisten auf deren Inhalte geprüft und alles auf einer Liste festgehalten.

Immer wieder schweifte mein Blick zu der Ecke, in der mich Kaiba beim Zeichnen erwischt hatte. Wie er sich wie ein Gockel vor mir aufgeplustert hatte. Lächerlich! Der Kerl hatte ganz eindeutig ein Ego-Problem. Und doch entfuhr mir beim Gedanken an diese Begegnung ein leider Seufzer und eine Gänsehaut rauschte meinen Rücken hinab. Ich schloss die Augen und vor mir tauchten Bilder auf. Der Stoff seines Hemds, der leise geraschelt hatte. Die Krawatte, die so perfekt um seinen blassen Hals lag. Seine Lippen. Seine blauen Augen, die mich so intensiv angesehen hatte.

Alter, was war DAS denn?! Ich riss die Augen auf und schlug meine Stirn einige Male kräftig gegen die Wand in der Hoffnung, so die Bilder aus meinem Kopf schütteln zu können- leider ohne Erfolg...

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 14, 2023 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Was wir nicht laut sagenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt