Reghas stolperte durch die Dunkelheit. Starker Regen erstickte jedes Geräusch. Eisiger Wind pflügte durch die flachen Ebenen. Es war viel zu kalt für einen Drittfrühling.
Arme und Beine spürte er kaum, konnte sie aber noch benutzen. Verbissen kämpfte er sich durch dichte Waldstücke, jagte über Hügel. Fühlte überall Risse und Schmerz. Früher als gewohnt, verließ ihn alle Kraft.
Mit rasselndem Atem kam er zum stehen und starrte auf seine Hände, jene die so geübt waren, ihm Schreiben, handwerkliche Arbeit und Kampf möglich machten. Die Finger und Gelenke waren verkrampft und blutig, verrenkt wie Krähenfüße.
Egal.
Sie mussten nicht schreiben. Er wollte nicht kämpfen. Sie mussten ihn nur fort bringen, einfach nur weg. So wie seine Beine, die schwer an ihm zogen wie Mühlenräder. Die wollten, was er wollte, aber nicht mehr konnten.
Er setzte sich auf einen Baumstamm und presste die Handballen gegen seine Schläfen.
Wovor floh er eigentlich?
Von hier aus sah er die Silhouette des Südwaldes am Horizont, verschleiert und grau. In den vergangenen Stunden musste er tausende Schritte gelaufen sein. Heute morgen noch sah er die Tannen, Eschen und Birken dieser grünen Grenze vor sich. Nun waren sie weit weg.
Das war gut.
Aber wo war er, bevor er den Wald noch vor sich hatte? Was war geschehen?
Er war kein junger Hüpfer mehr aber wenn es eines gab, auf das er sich verlassen konnte, war es sein Orientierungssinn. Ob tiefes Moor oder unendlich weite Ebene, sein Instinkt führt ihn schnell ans Ziel und wenn er einmal nicht wusste wohin, so erinnerte er sich doch an markante Orte und Kleinigkeiten, die ihm den Weg wiesen.
Und jetzt?Keine Orientierung. Keine Erinnerung. Fast nichts.
Langsam entflocht er sein dunkles Haar, drückte Unmengen Wasser heraus, band es sorgfältig zusammen und atmete tief ein.
Dass ihn dieses Ritual beruhigte wusste er noch und er genoss die Sekunden, in denen er selbst von seinem Nichts im Schädel nichts mehr wusste.
Dann erbrach er sich auf das Gras zu seinen Füßen.
***
"Herr! Wacht auf. Ihr macht den Kindern Angst."
Grelles Licht nahm Reghas jede Sicht. Zitternd schützte er seine Augen und drückte sich hoch. Vor ihm hockte eine Gestalt, eine bauchige Öllampe in der Hand haltend. Strohduft umgab ihn und es war trocken.
Im Hintergrund drückten sich drei Kinder aneinander. Reghas blinzelte ein paar Mal, bis er schärfer sehen konnte. Ihre Augen waren aufgerissen. Neben ihnen quietschte ein Scheunentor im Wind, dahinter lauerte die schwarze Nacht.
Der Bauer wich etwas zurück und senkte die Lampe. Seien Augen waren verquollen, seine Haut schimmerte fahl. Alt konnte er nicht sein. Zauselige Barthaare versteckten einen Teil seines gedrungenen Gesichts.
"Tut mir leid, Herr."
Sachte berührte er Reghas Schulter, wie als um zu spüren, dass er menschlich war.
"Was ist mit dem Mann?", fragte eines der Kinder, ein aufgeweckter Junge mit einem angespitzten Stab in seiner rechten Hand.
"Er hatte Alpträume, Jon. Sicher von der Erschöpfung und den Strapazen der Reise." Er beugte sich ein Stück vor und flüsterte: "Ich heiße Asga." Er holte ein Stück Käse aus seiner Tasche und reichte es Reghas. "Was euch passiert ist, weiß ich nicht. Ich denke, dass euch niemand gefolgt ist aber nachts sucht euch wahrhaft böses heim, woher auch immer."
"Was habe ich geträumt, Asga?"
Reghas drückte sich weiter hoch. Plötzlich einsetzender Schwindel ließ ihn zurück auf sein weiches Bett sinken. Der helle Überwurf, den der Bauer ihm geliehen haben musste, war dunkel vom Schweiß.
Asga musste ihn erkannt haben. Warum sonst bot er ihm einen Platz für die Nacht an? Keine Selbstverständlichkeit in der Grenzregion, wo Misstrauen und Vorsicht tägliche Begleiter waren. Reghas betrachtet den dicken Ring an seiner linken Hand. Das Symbol darauf kam ihm bekannt vor.
Plötzlich zuckte er zusammen. Das kleine Mädchen spazierte auf seine Kleidung zu, die ausgebreitet auf Steinen lag.
"Papa. Da funkelt was!"
Ehe Asga einen Ton von sich geben konnte, vibrierte etwas in Reghas Kopf, donnerte wie eine Kompanie mißgestimmter Instrumente hin und her und presste die Luft aus seinen Lungen.
"Nein! Nicht!" Mehr brachte Reghas nicht heraus.
"Geh da weg, Malya. Sofort. Deine Neugier macht mich noch irre."
Malya zog sich schmollend zurück. "Dann eben nicht."
"Kommt ihr drei," tönte es aus der Dunkelheit. Asgas Frau erschien humpelnd und stützte sich am Torrand ab.
"Ich erzähle euch eine schöne Geschichte, damit ihr einschlafen könnt."
Sie mied Reghas Blick und schleifte die Kinder mit sich. Bevor sie aus dem Lichtkreis verschwand, zischte sie "Denk an die Tiere!" und verschwand.
"Danke," stammelte Reghas und spürte, wie sich sein Herzschlag beruhigte.
"Neugier ist ein Geschenk, Asga. Nehmt sie ihr nicht."
Der Bauer sah Reghas verblüfft an: "Ihr habt sie weggescheucht, Herr. Nicht ich."
Reghas nickte müde. "Warum hilfst Du mir?"
Einige Sekunden schwieg Asga und sah Reghas an, als suche er etwas. "Keine Wunden am Kopf. Wenn nur ein Wundheiler hier wäre."
"Wer bin ich? Sag es mir."
Der Bauer deutete auf den zerbeulten Ring an Reghas Finger. "Ihr seid ein Gesandter des Hochfürsten, aber irgendetwas hat euch das vergessen lassen."
DU LIEST GERADE
Die Sucher II - Der Fluch der Erdvergessenen
Teen FictionIn der Zuflucht fühlen sich die Sucher sicher. Zumindest eine Weile. Sehr bald aber spüren sie, dass die Schatten der Vergangenheit sie einholen werden. Der Tod einer geliebten Person konfrontiert sie mit der letzten Möglichkeit die ihnen bleibt. ...