14. Ein unmöglicher Abgrund

4 3 0
                                    

Vor vier Monaten…
 
Loshar starrte auf die leblosen Tierkörper herunter, die nass vom Regen zu Haufen aufgetürmt am Rand des Versammlungsplatzes lagen. Der Geruch von frischem Blut hatte sich wie eine zweite Haut über das Dorf und alles, was darin lebte gelegt. Die Krieger seines Stammes waren gute Schützen, konnten aber nicht verhindern, dass ein knappes Dutzend seiner Leute tot war.
Loshar hasste, was er in den letzten Stunden und einige Male zuvor hatte tun müssen. Auch knapp drei Jahre nach seinem Triumph.
Die Familien der Toten wussten kurz nach einem Kampf meist nichts über dessen Ausgang. Sie hatten sich in die Sicherheit der Hügellager zurückgezogen und beschützten Kinder und Alte. Jene, die Angehörige verloren hatten, durften vor allen anderen ihr Heim verlassen und frei von allen Blicken den Toten betrauern.
Loshar hatte die Namen der Toten in Erfahrung gebracht und nacheinander alle Familien besucht, das tragische Ende verkündet. Im trösten war er nicht gut, er hasste Tränen, verabscheute Trauer. Auch wenn er als Stammesführer Verantwortung für das Leben aller trug, war es ihm in diesen Momenten zuviel davon. Immerhin war es ihm erlaubt, bis zur Erfüllung der Aufgabe Benings Gesicht abzulegen, was grundsätzlich untersagt und nur in genau beschriebenen Momenten gestattet war. Das Gedenken der Toten war wichtiger, als alle Symbole.
Erst nachdem alle Familien unterrichtet waren, erscholl der gellende Ton des Zweihorns. Er verkündete das Ende des Kampfes und versprach Sicherheit. So auch vor wenigen Stunden.
Die Leichen ruhten nun halb verdeckt neben der Kriegshalle, belagert von den Körpern der Frauen, beweint und für immer verloren.
 
Bereits das zweite Mal in diesem Jahr waren sie Opfer eines Angriffs geworden.
In den frühen Morgenstunden waren aberhunderte Klingenadler im Schutz der Dämmerung eingefallen. Trotz ihrer enormen Spannweite glitten sie nahezu lautlos durch die Luft und wurden erst entdeckt, als die ersten Schmerzensschreie das Drama ankündigten.

Sie kamen von der Küste, soviel hatten Loshars Kundschafter herausgefunden. Niemand wusste, warum sie so aggressiv waren oder warum es immer mehr wurden. Wilde Spekulationen machten die Runde. Manche wähnten Benings Geist hinter all dem, nicht wenige interpretierten dies als Warnung der Götter, nicht zu nachsichtig mit Feinden zu sein. Wie auch immer, sie waren ein Problem, eins, für das es keine Lösung gab. Loshar hatte nach dem Martyrium von Glaubenssätzen Abstand genommen, aber einer war geblieben. Es gab eine Lösung. Immer. Für alles. Nur für diese verdammten Vögel nicht.
 
Der Stammesführer rückte die Maske zurecht und verließ die Plattform seiner kleinen Hauses über eine verstärkte Leiter. Diese endete in einem schlichten ovalen Hof, von dem aus ein schmaler, gewundener Gang zum Tor führte. Loshar liebte diesen Ort, hier kam er zur Ruhe, hier dachte er nach, hier stellte er sich seinen inneren Dämonen. 

Eigentlich erwartete er niemanden, schon gar nicht nach einem solchen Morgen, aber er hörte die Stimmen von Cavot und seinem Zwillingsbruder Frewar. Sie gehörten zu seinen engsten Vertrauten. Nicht weil sie überragende Fähigkeiten besäßen oder gescheit waren. Das Leben hatte ihnen übel mitgespielt aber anders als viele besaßen sie eine sagenhafte Zähigkeit und einen unbändigen Willen. Loshar schätzte diese Eigenschaft beinahe mehr als ihre Loyalität.
Sie waren hier. Ein verdammt schlechtes Zeichen. Waren noch mehr gestorben? Brachen Fieber aus? 
Auf halbem Weg zum Tor sah er sie stehen, blutverschmiert und abgekämpft. Sie waren einen halben Kopf größer und besaßen üblicher Weise eine unnatürlich gerade Körperhaltung, von der aber nichts mehr übrig war. Ihre Speere locker in Händen, lehnten sie an der Wand, ein Stück Brot in der Hand.

“Freunde.” Loshar hob beide Arme zum Gruß. “Es ist ein schwerer Tag für alle. Jede Pause ist wichtig, aber der Transport zum Friedfeld muss noch organisiert werden, ebenso das Bestattungszeremoniell.”
Cavot, der Erstgeborene streifte die Reste seine Helmes ab und kniete. Das natürliche rot seiner Haare war unter dem geronnenen Blut kaum noch zu erkennen. Einer Kette mit gigantischen Krallen umspannte seine Hand.
„Mein Stammesführer und Träger von Benings Gesicht.“ Er deutete auf seinen Bruder. “Wir haben die Gebräuche nicht vergessen, aber etwas äußerst Beunruhigendes ist geschehen, während der Kampf wütete.”
Loshar hörte aufgeregte Stimmen hügelabwärts.
“Steh schon auf. Was ist passiert verdammt?”
Frewar, weit weniger blutgetränkt, trat vor. Anders als sein Bruder war Jäger, konnte aber mit fast allen Waffen hervorragend umgehen. Bogen und Pfeile trug er nicht bei sich.
“Togaren sind in das Dorf eingedrungen. Während des Angriffs haben sie sich versteckt, niemand weiß, wo.”
“Lebt dieser feige Abschaum noch?” Loshar blickte in Richtung Versammlungsplatz. Die Geräusche wurden lauter. “Scheint fast so. Ich hoffe bei den Göttern, das sie einen verdammt guten Grund hatten, nicht mitzukämpfen. Immerhin verhindern wir, dass diese Bestien landeinwärts ziehen und sie überrollen.”
Die Zwillinge sahen sich an. “Wenn wahr ist, was sie sagen, hatten sie den.” Frewar hatte er selten so ernst gesehen.
“Bringt sie zur Halle der Jäger und sagt dem ersten Waffenmeister, er soll sich um die Begräbnisvorbereitungen kümmern. Das wird Aeor nicht schmecken, aber ich brauche ihn im Verhör. Auf einen Speer kann ich verzichten, auf seine Menschenkenntnis nicht. Er wird nachkommen. Wartet dort auf meine Ankunft.”
Die Zwillinge nickten knapp und machten sich auf den Weg.
“Ach ja. Die beiden Feiglinge reden mit niemanden. Setzt das durch, zur Not benutzt eure Fäuste wenn es nicht anders geht.”
“Das werden wir, verlasse Dich auf uns.”
Dann war er allein auf dem Platz. Das Getöse am Fuße des Hügels endete abrupt. Auf die beiden konnte er sich verlassen. Diesen Lärm hatten die Toten nicht verdient.
 
 

Die Sucher II - Der Fluch der ErdvergessenenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt