Mühsam und völlig durchnässt stampfte Reghas durch das dichte Unterholz. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten, schwankte, stützte sich zitternd an rutschigen Stämmen ab und quälte seinen Körper vorwärts.
Die Kapuze hatte er tief in das Gesicht gezogen, um durch die Regenmassen zumindest etwas sehen zu können. Das laute Prasseln aus den Wolken übertönte alle anderen Geräusche. Der Wald klang wie ein alles verschlingender reißender Bach.Seine rechte Hand verschwand hektisch tastend immer wieder in der Innentasche des schweren Fellumhangs. Vollgesogen zog er ihn unerbittlich Richtung Erde. Jeder Muskel schmerzte vor Anstrengung, der Hunger fühlte sich unerträglich an.
„Lass mich eine Pause machen. Ich muss essen. Bitte“, röchelte er in den Wald hinein.
Keine Antwort. Starr nach vorne blickend versuchte er etwas durch den nassen Schleier zu erkennen, Schemen von Bäumen und Geäst ließ er hinter sich.
[Wage es nicht, Deinen kümmerlichen Leib untätig herumsitzen zu lassen!]
Das tiefe dröhnen in seinem Schädel ließ ihn erzittern. Stechender Schmerz vibrierte hinter seinen Augen, alles drehte sich.
Dort, ein Ast.
Hastig griff er danach, bekam ihn halb zu fassen, rutschte ab und verlor die Kontrolle. Eine Sekunde später bohrte sich ein spitzer Stein tief in seine Handfläche. Der Schmerz verblasste schnell, überrumpelt durch das flüstern, zetern, schreien und raunen in seinem Kopf.
„Du verdammter Parasit bringst mich noch um.“
Schwer atmend stemmte er sich hoch, biss die Zähne zusammen und schleppte sich weiter. Der dichte Baumbewuchs hatte nachgelassen, schwache Lichtstrahlen durchbrachen die Dunkelheit, die seit Tagen sein Begleiter war.
Der Wald endete hier. Endlich. Geendet waren auch alle hoffnungsvollen Gedanken daran, dass An Horl ihn verschonen würde. Seit diesem Morgen wusste er es unzweifelhaft. Was sie die Tage (Wochen?) zuvor gesprochen hatten, waren Kraftproben. Worte, die der Kriegerseele dazu dienten auszutesten, wie weit er gehen könnte ohne Reghas gleich umzubringen.
Aus dem dröhnen in seinem Schädel wurde aufgeregtes pochen. Das hügelige Grasland vor ihm verschwamm im Rhythmus eines fremden Herzschlags, seine Augen tränten stark.Weiter vorwärts stolpernd, kreuzte er einen ausgetreten Pfad. Waren das Wagenspuren? Wohin führten sie? Die Landesgrenze hatten sie wohl überschritten und dieser schmale Weg führte vermutlich weiter nach Norden. Zu Menschen, die Rat wussten, die helfen konnten?
So etwas wie Glück durchflutete ihn, aber nur kurz. Was immer dieses Ding in seinem Kopf vorhatte, er war nicht dazu bereit seine Marionette zu sein.
[Du hast zwei Beine! Benutze sie, Erdvergessener. Ich rieche Menschen in der Nähe.]
„In der Nähe?“
Weit und breit bewegte sich nichts außer unzähligen Kiefern, die unruhig im Wind lagen und einen Teil ihrer Blätter bereits verloren hatten.
Regas verfiel in einen trottenden Gang. Tagelang war er niemandem mehr begegnet. Er schätzte die Einsamkeit, aber nur zeitweise. Sie wurde ihm nicht aufgezwungen. Niemals. Dieser Stein machte einsam.
Böiger Wind verfing sich in den Falten seines Umhangs. Fahrig strich er sich das stumpfe Haar aus dem Gesicht und blinzelte in den Himmel. Ein Gewitter würde es nicht geben, immerhin. Dunkle Wolken schlichen weit im Süden über das Land, aber nicht hier.
Allein sein. Wie lange noch? Für immer?
Eine Sekunde bekam Reghas schlecht Luft. Dieses Ding in seinem Kopf war ein Tyrann, dem es gefiel zu herrschen. Gehen lassen würde er ihn nicht.
[Bleib stehen.]
Auch um die Ruhe war es geschehen.
Auf den Beinen konnte er sich nicht mehr halten. Sie waren Schmerz und Taubheit zugleich. Kraftlos setzte er sich auf einen Baumstumpf. Nie zuvor war er so hungrig wie in diesem Augenblick.
„Hast Du einen Plan?“
Nichts geschah. Mit aller Macht hob er sein rechtes Bein und befühlte die Überreste seine Lederstiefel. Kein Schuster in diesem Land könnte all die Löcher flicken.
„Wohin gehen wir?“
Keine Antwort.
Schweißperlen liefen Reghas vernarbte Stirn hinunter. Er schloss die Augen und atmete tief ein. Seine Brust hob und senkte sich so regelmäßig wie ein Bauernkarren auf löchrigem Grund. Dem fremden Willen standzuhalten kostete viel Kraft. Wie lange würde er durchhalten ohne den Verstand zu verlieren? Schlafen lassen würde er mich nicht. Keine Sekunde.
[Du redest zuviel, Erdvergessener.]
„Und Du zu wenig.“
Plötzlich ließ der betäubende, zerrende Druck in seinem Kopf nach nur um eine Sekunde später umso brutaler seinen Geist zu überrollen.
[Los jetzt. Sie müssen in der Nähe sein. Ich will, dass Du sie findest.]
„Ich muss essen. Ohne was zwischen den Zähnen werde ich Käfer im Gras finden, aber nicht mehr.“
Langsam förderte er ein feuchtes Stück Brot aus seinem Reisebeutel zutage und biss hinein. Widerlich. Hastig würgte er seine Mahlzeit herunter.
Er setzte seinen Marsch fort und nahm die Biegung die vom Wald wegführte. Auf seine Intuition konnte er sich wie schon so oft verlassen. Schon bald schälten sich Silhouetten von Häusern aus dem leicht nebligen Morgenlicht.
„Da hast Du deine Menschen. Verrat mir, was Du vorhast.“
[Wir werden sie töten.]***
"Du hast den Verstand verloren."
[Da ist vielleicht was dran, Mensch.]
"Warum das? Sag es mir! Was haben sie Dir getan?"
Die Stimme schwieg, aber nur kurz.
[Nichts.]
"Oh. Wirklich? Nichts? Dann sollten wir gehen und sie leben lassen." Regas wurde übel. Ob vom Brot oder durch den Gedanken, Leben beenden zu müssen war schwer zu sagen.
[Wenn Du sehr müde bist, nehme ich am meisten wahr. Deine Gedanken sind klar, wie nach einen gewonnen Schlacht. Kurz bevor sie sterben, dürfte dieser Effekt noch größer sein. Ich muss herausfinden, was mit Yr ist.]
Erschöpft ließ sich Regas auf einen Felsen nieder und starrte wie betrunken auf die hölzernen Bauten. Alles was er sah waberte und verschwamm. Bäume bogen sich wie unter Stasisstürmen gefährlich zur Zeit, selbst der Boden wog sich im Wind. Nichts rührte sich in der kleinen Ansiedlung. Scheinbar.
Hoffentlich waren sie fort. Weit fort. Er betete, dass niemand mehr dort war. Kein Mensch und auch kein Tier.
„Wie willst Du das anstellen?“
Eine Antwort blieb wie so oft aus.
Der Druck von seinem Kopf ließ plötzlich nach und verschwand. Der taube Griff, der sein Leben die letzten Tage rücksichtslos antrieb, war fort. Regas spürte, wie das Durcheinander seiner Gedanken konkreten Inhalten wich. So klar und deutlich.
Seine Kraft, deren mächtige Wirkung auf einen kläglichen Rest zusammengeschrumpft war, würde er sich aufsparen können. Vielleicht. War er fort? Seine Finger zitterten als die Spannung in seinen Muskeln nachließ.
Obwohl der Nebel am Boden zu kleben schien, huschten immer mehr Einzelheiten in sein Blickfeld. Prächtige Zugpferde zogen große Karren auf die Felder zur linken Hand. Er sah drei Handvoll verwaschene Gesichter, vornehmlich Männer, die teils müde, teils hellwach sprachen, lachten oder schwiegen. Bemerkt hatte ihn nur ein hagerer Junge, der für die anstehende Feldarbeit kaum geeignet war. Er hob seine Hand zum Gruß. Dann war es zu spät.
Er spürte eine kurze Vibration hinter seinen Augen, dann war alles dunkel. Ein spiralförmiger Schmerz bohrte sich genüsslich durch seinen Kopf. Alles brannte. In ihm wütete kein Krieger mehr, sondern ein rachsüchtiger Dämon.
Reghas schrumpfte innerlich und mit ihm die Welt. Etwas zog und schob ihn vorwärts. Sein ganzer Kiefer vibrierte, aber er hörte keinen Ton. Immer schneller bewegte etwas seine Beine. Er wollte sich fallenlassen, raste aber immer schneller über Feld und Flur.
Er war der Todbringer.
Gestalten huschten vor ihm her. Zu dem Jungen (war er es?) schloss er auf. Aber dieser lief nicht fort (warum nicht?) sondern blieb stehen, seine Hände auf die Schläfen gepresst. Sein Körper kippte auf die Seite und rührte sich nicht mehr. Der Gestank von frischem Blut ließ Reghas‘ Magen rebellieren.
Das Tosen in seinem Schädel riss ihn weiter. Schatten tauchten vor ihm auf und verschwanden links und rechts aus seinem Blickfeld. Schwere Dinge fielen zu Boden, sekundenweise wurde der Aufruhr in seinem Kopf durch weinerliches Quiecken übertönt, das verstarb.
Der Boden wurde weicher und roch erdig. Regas stolperte über einen festen Gegenstand. Etwas spitzes stach ihn, aber das spürte er kaum. Hilflos tastete er um sich, bekam etwas zu fassen, krallte sich daran fest. Etwas Warmes rann seinen Handfläche herunter.
Er ließ los.
Weiter trieb es ihn. Minutenlang. Er taumelte, stolperte und robbte vorwärts, berührte tote Körper, übergab sich, schnappte nach Luft und fühlte sich selbst kaum noch lebendig.
Irgendwann lag Regas auf dem Rücken, unfähig die Augen zu öffnen. Sein Herz raste immer weniger, seine Gefühle in Armen und Beinen kehrten zurück.
Löchrig fühlte er sich. Zahllose Wunden hatten seine Haut zerteilt. Dann flüsterte An Horl. Oder kicherte er?
[Sie sterben wie die Maden, diese Schwächlinge. Bitter. Für sie und für mich.]
Der kleine Rest von sich, der noch ihm selbst gehörte schwieg. Niemanden hatte er schützen können. Er weinte, atmete und blieb irgendwie am Leben.
Der Regas der er mal war, der, der liebte und reiste, der, der neugierig und rücksichtsvoll war (war er all das?) wurde in dieser Sekunde zu Geschichte.
Selbsthass und Wille würde ihn fortan zusammenhalten.
Unbestimmte Zeit später öffnete er die langsam Augen. Sein Gesicht war feucht von Tränen und Tau. Er sah sich um und schloss die Augen wieder, als er die unzähligen Toten sah.
Männer, Frauen und Kinder mit aufgerissenen Mündern, klaffenden Wunden und fratzenhaften Gesichtern lagen, lehnten oder hingen reglos. Es war gespenstisch ruhig in diesem Dorf der Toten.
Die Zeit stand still.
Wer weiß, wie lange noch.
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Die Sucher II - Der Fluch der Erdvergessenen
Fiksi RemajaIn der Zuflucht fühlen sich die Sucher sicher. Zumindest eine Weile. Sehr bald aber spüren sie, dass die Schatten der Vergangenheit sie einholen werden. Der Tod einer geliebten Person konfrontiert sie mit der letzten Möglichkeit die ihnen bleibt. ...