“Ich habe keine Lust zu reden, also versuch es gar nicht erst.”
Ingwer erhielt keine Antwort.
Sie blieb stehen und drehte sich zu Vier um, sah ihn aber durch den dichten Bewuchs erst auf den zweiten Blick.
Kurz vor Sonnenaufgang waren sie aufgebrochen und hatten die befestigte Handelsstraße gemieden, die sich noch ein Stück weit nach Osten erstreckte ehe sie vor den ersten Ausläufern des Feuerwaldes nach Süden abbog.
Zwei Stunden schlugen sie sich durch das Unterholz. Je näher sie dem Feuerwald kamen, desto weniger Soldaten waren zu erwarten, aber eine Garantie dafür gab es nicht. Böse Überraschungen galt es zu meiden.Ingwers Plan war, so schnell wie möglich zurückzukehren und sie hatte sich und Kira geschworen, alles zu tun, damit sie ihr Ziel schnell erreichte.
Nicht die Straße zu nutzen war so eine Maßnahme.
Vier loszuwerden eine mögliche andere. Seine Nähe ertrug sie seit Tagen nur schlecht.Gerade überquerten sie eine dichtbewachsene Hügelkette und der Detektor gab sich alle Mühe, es nicht allzu eilig zu haben. Immer dann, wenn der Abstand zwischen ihnen bis auf Sichtweite schrumpfte, beschleunigte er seinen Schritt und schloß auf, blieb aber stets hinter ihr, fiel wieder zurück, schloß auf.
Soll er ruhig zurückbleiben!
Ingwer lief es heiß den Rücken herunter und ging schneller. um sich abzulenken. Kein einziges Wort hatte er in Ingwers Gegenwart über Elis verloren. Zwei Abende zuvor hatte sie mit halbem Ohr gehört, wie er sie Trickser gegenüber erwähnte. Warum sprach er mit diesem Emporkömmling aber nicht mit mir?
“Warte!”
Sie blieb stehen und drehte sich um.
Hoffte er, dass ich ihn darauf anspreche? Eine komische Art Rücksicht zu nehmen wäre das. Oder hatte er keine Ahnung?
Stoisch ruhig erklomm er die Anhöhe. Seinen Wanderstab bohrte er abwechselnd als Haltgeber tief in den Boden, mal schob er damit totes Holz beiseite, mal stocherte er in Büschen.
Dieses massige Stück Holz war wie ein guter Freund für ihn. Noch nie hatte sie Vier ohne gesehen.
Vorwitzige Sonnenstrahlen brachen sich auf seiner rissigen Oberfläche. Mehrere dünne Eisenplättchen schmückten das dunkle Holz und verhinderten, dass sein Werkzeug auseinanderfiel. Auf jedem Plättchen hatte Vier den Tag graviert, an dem es angebracht wurde. Das allererste war bereits viele Jahre alt, die Zahlen verwittert und nur mit einem Vergrößerungsglas zu entziffern.
Gut zu lesen waren sie aber alle nicht. Der Detektor schmierte eine Mischung aus Asche und Fett auf die glänzenden Flächen, um zu verhindern, dass man ihn schon aus hunderten Schritt Entfernung sah.
Darin war er sehr gewissenhaft. Und darin, dumme Fragen zu stellen.
"Du bist schnell." Vier sah an Ingwer vorbei und kniff die Augen zusammen. "Immer wieder ein beunruhigender Anblick. Ich war lange nicht mehr dort."
Ingwer folgte seinem Blick. Dunkelgraue Rauchschwaden krochen wie geisterhafte Erscheinungen über die Wipfel der gigantischen Waldfläche östlich von ihnen.
"Warum trödelst Du so?"
"Das tue ich nicht. Ich versuche, Dich zum innehalten zu bringen. Meist gelingt das, wenn man sich gegenteilig verhält. Du hast es eilig wie mir scheint, ich lasse mir Zeit."
Ingwer stierte Vier genervt an. "Und?"
"Deine Eile hat mich stutzig gemacht. Gestern Nachmittag wirktest Du wütend und gekränkt."
Ingwer drehte sich weg und betrachtete den Tanz der Rauchwolken, wie sie sich ausdehnten und zusammen zogen, sich fanden und vergingen. Der Wald kam nie zur Ruhe. Brandherde breiteten sich aus, Siedlungen verschwanden, Tiere starben, alles war im Fluss, angetrieben von ewiger Glut. Ein unheimlicher Ort, aber ihre Heimat?
"Es war Deine verdammte Idee! Erst belügst Du mich und schickst mich auch noch hierhin. Wer wäre nicht sauer?"
Ingwer sprang auf und rannte den Hügel hinab. Alles raste an ihr vorbei. So gut es ging, wich sie aus, streifte Äste, blieb hängen. Die Stiche und blauen Flecken spürte sie kaum, als sie keuchend stehen blieb.
"Womit habe ich Dich belogen?", erklang es dumpf hinter ihr. Ingwer holte tief Luft. Sie konnte die Ausdünstungen des Feuerwaldes bereits riechen, der Duft von kalter Asche war kaum wahrnehmbar, aber er war da.
Erschöpft setzte sie sich auf einen Baumstamm und wartete auf den Detektor. Vier kam kurz darauf an, nahm betont langsam Platz und rieb sich über das Gesicht. Er wirkte müde.
“Dein Mut und Deine Energie in Ehren, aber wir sollten zusammen bleiben, Ingwer. Gefahren lauern überall.”
Ingwer ignorierte das Gesagte. Seine Ruhe machte sie wahnsinnig und sie musste sich anstrengen, ihn nicht mit Schimpfwörtern zu überhäufen. Vier wirkte sortiert wie immer. Eine wichtige Sache aber vermisste sie.
“Was ist mit Deinem Spürstein?”
“In der Zuflucht. Ich habe ihn dort gelassen, an einem sicheren Ort.” Er trank einen Schluck und reichte Ingwer den Wasserbeutel. “Den Gedanken, jemandes Geist bei mir zu haben, der einen grausamen Tod gestorben ist, nur um mir die Arbeit zu erleichtern, macht mich krank.”
Ingwer wischte sich über den Mund, griff in ihre Tasche und zog den kleinen Spürsteinsplitter hervor. Sie befühlte seine Kanten, drehte ihn zu allen Seiten. “Ich träume vom Ritual. Fast jede Nacht. Diese Schreie werde ich nie vergessen. Der hier ist ein Geschenk. Ich habe oft daran gedacht, ihn in den nächsten Bach zu werfen, aber das wäre, als würde ich die Erinnerung an alles, was geschehe ist, auslöschen.”
“Du solltest ihn behalten.”
Ingwer verstaute den Stein wieder. “Kanntest Du sie gut?”
“Elis? Nein. In der Mine habe ich sie zum ersten Mal gesehen.”
“Sie hat mich gut behandelt. Ich glaube, sie mochte mich. Wirklich.”
“Mochtest Du sie?”
Ingwer lief es kalt den Rücken herunter. Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet. War das eine Falle? Sie spürte ihre rechten fuß nervös zucken und zwang sich, ihn ruhig zu halten.
“Ja. Irgendwie.”
Vier schwieg eine Zeit lang. Ingwers Gedanken rasten, fanden aber keinen Halt. Wie konnte sie eine Person mögen, die derart grausame Dinge getan hatte?
“Sie hat die Wandler gut behandelt. Ich habe die Kleinen gesehen. Nicht alle. Sie hatten Schmerzen, traten um sich, manche bissen sich selbst. Elis hat die Wunden verbunden, sie beruhigt und ihnen zu essen gegeben.”
Vier schnaubte verächtlich. “Lobenswert. Immerhin hat sie ihre Sklaven gut behandelt.” Er nahm einen Stein, suchte einen zweiten und dritten. Dann jonglierte er sie äußerst geschickt für eine Weile.
“Das beruhigt mich.” Er lächelte, das erste Mal seit Tagen und es war nicht gekünstelt. “Probier es mal.”
Ingwer bemühte sich, es ihm gleich zu tun, aber entweder war sie zu langsam oder die Steine fielen zu schnell. Sie kniff die Augen zusammen. Irgendwann musste es klappen. “Sie hat etwas in mir gesehen,” presste sie konzentriert hervor.
“Hat sie es Dir verraten?”
“Sie hat mir gesagt, Du wüsstest mehr über mich, als Du zugeben würdest. Genau genommen über Negatoren.” Die Steine landen sanft auf dem weichen Boden.
“Sie nehmen Kräfte in sich auf und neutralisieren sie. Selbst wenn ich es nicht explizit gesagt habe, geahnt haben wirst Du es sicher.” Vier zuckte mit den Schultern. Er wirkte wirklich ahnungslos.
“Elis sprach von einem Buch, das Du geschrieben hast. Eine Art Reisetagebuch oder so. Sie hat es mir gezeigt. Dein Name stand darauf." Sie zeigte die Größe des Buches mit ihren Händen.
"Mein Name?” Er lachte lauthals. “Ich habe nie eines geschrieben. Ich rede gerne, aber schreiben liegt mir gar nicht. Was stand darin?" Vier wirkte überrascht, aber nicht überrumpelt und bestätigte durch seine Reaktion, was Ingwer insgeheim gehofft hatte. “Hast Du jemals gesehen, dass ich in einem Buch blättere?”
Ehe die Sucherin etwas sagen konnte, krachte es im Himmel über ihnen. Dichte Wolken hatten sich zusammengerottet und es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Regenschauer ihre Route in eine Rutschpartie verwandeln würde.
Vier griff hastig nach seinem Stock und richtete seine Kleidung. “Lass uns sprechen, wenn wir die graue Zone erreicht haben. Bis zum Mahnmal der Gefallenen ist es von dort nicht mehr weit und wir sind vorerst sicher.”
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Die Sucher II - Der Fluch der Erdvergessenen
Teen FictionIn der Zuflucht fühlen sich die Sucher sicher. Zumindest eine Weile. Sehr bald aber spüren sie, dass die Schatten der Vergangenheit sie einholen werden. Der Tod einer geliebten Person konfrontiert sie mit der letzten Möglichkeit die ihnen bleibt. ...