Teil 1

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"Wir hätten was von dem Obst mitnehmen sollen. Du weißt schon. Am Weg sind wir an Apfelbäumen vorbei gekommen. Hier finden wir nichts mehr, außer dir schmecken Laub, Erde oder Steinchen". Sie streichte sich die kurzen blonden Haare aus dem Gesicht und schaute grinsend zu ihm hinüber. Die vielen Baumstämme zu ihrer Seite warfen dunkle Schatten entlang der weiten Marmorstufen, auf denen sie hin und her ruckte, um ein halbwegs gemütliches Plätzchen zu finden. Im faden Licht der Dämmerung sah sie nur die Umrisse seines Schattens und folgte fasziniert den genauen Konturen der kräftigen Schultern. "Man, was würde ich jetzt für ein paar Kissen geben.", meinte sie seufzend und drückte ihre dünnen Oberschenkel gegen die Brust, wobei sie fast von der Stufe polterte. Nach einem Moment der Stille schaute sie vom Boden wieder zu ihm hoch: "Tut mir leid aber wie war noch mal dein Name?". Ohne sich zu ihr umzudrehen, flüsterte er etwas. "Denis. Mein Name ist Denis Hawn.". Nickend wendete sie sich wieder ab und schaute hinauf in den Himmel. Kaum hatte sie einen Moment nicht aufgepasst, war es plötzlich dunkel geworden und aus den schattigen Konturen, die sie eben noch so genau musterte, waren schmale, von Mondschein beleuchtete Flächen geworden. 

"Denis. Mir ist klar, dass du mich nicht kennst und dass ich dich nicht kenne, aber ich bin wirklich froh, dass wir uns getroffen haben. Ich weiß wirklich nicht, wie ich mich dabei fühlen würde, wenn ich jetzt allein wäre. Ich bin froh, dass du da bist". Sie lehnte das Kinn an ihr Knie und beschäftigte sich damit, Kieselsteine mit den Zehenspitzen die Stufen hinunter zu schubsen. Als sie gerade ehrgeizig ihr Bein streckte, um ein Steinchen zu erreichen, dass sich einige Stufen unter ihr befand, bemerkte sie, dass sich Denis zu ihr umgedreht hatte. Er war ein etwas älterer Mann. Sie hätte ihn wahrscheinlich auf fünfzig geschätzt, auch wenn sie sich nicht sicher war, wie Leute in dem Alter eigentlich aussehen sollten. Da konnte man sich eigentlich bei keinem Alter genau sicher sein, aber desto älter man war, desto schwieriger fiel es ihr zu raten. "Vielleicht liegt das daran, dass man schon so viele Jahre der Entscheidungen hinter sich hat, die das beeinflussen können. Mit der Zeit trägt man die Konsequenzen des eigenen Handelns, als Falten mit sich herum.", dachte sie sich, während sie sein Gesicht betrachtete. Es hatte etwas Fesselndes an sich, Formen so genau zu analysieren. Erst da bekam sie mit, dass er sie verwirrt ansah. 

"Was ist los?", fragte sie ihn verblüfft. Er schüttelte den Kopf, als ob er einen Gedanken loswerden wollte und bevor er sich wieder wegdrehen konnte, sprang sie auf und hüpfte barfuß von Stufe zu Stufe, bis sie sich neben ihm nieder lies. Dabei fielen ihr wieder die Strähnen ihres Pixies ins Gesicht, was sie jedoch dieses Mal ignorierte. "Wieso sagst du nichts? Wenn du keinen Small Talk machen willst find ich das total okay, aber antworten musst du mir schon.". Er schaute sie an und blickte dann wieder kopfschüttelnd zu Boden. "Was soll das? Falls du es schon gemerkt hast, wir sind die Einzigen hier. Wenn noch jemand hier wäre, würde ich dir deine Ruhe lassen, aber du bist ...". Mitten im Satz unterbrach er sie und sein Gesicht fuhr wieder in ihre Richtung.

 "Ich sage nichts, weil ich nachdenke. Diese ganze Situation erfordert Nachdenken und ich werde dir antworten, wenn ich bereit bin, dir eine Antwort zu geben.". Der Klang seiner Stimme schien sie zu überraschen. Es lag an der Art, wie er es sagte. Seine Worte hatten die  Wirkung von Geschrei, obwohl er stets in einem ruhigen und entspannten Ton blieb. Ein wenig eingeschüchtert rollte sie wieder ihre dünnen Arme um die Knie und blickte auf ihre kleinen Füße. "Du könntest über deine Gedanken reden. Oder einfach kurz aufhören. Manchmal ist es einfach besser, nicht nachzudenken. Man gibt der Situation damit nicht mehr Stellenwert, als sie eigentlich verdient und treibt sich auch nicht selbst in den Wahnsinn.", meinte sie im Flüsterton, ohne aufzublicken. Denis gab ein bedrücktes Stöhnen von sich und richtete sich auf. 

"Wie wärs mit einem Deal. Für heute Abend belassen wir es beim Schweigen und versuchen jetzt einfach Mal ein wenig zu schlafen und morgen wird so viel geredet, wie du willst. In Ordnung?". Sie setzte sich wieder aufrecht hin und lächelte ihn an. "In Ordnung. Bin sowieso todmüde!". Bevor sie ihre zierliche Gestalt auf einen der Stufenabsätze platzierte, gab sie noch ein tiefes Gähnen von sich und streckte die Arme und Beine auseinander. Denis wollte sich gerade hinlegen, als er sich noch einmal zu ihr umdrehte. "Was war noch mal dein Name?". Sie schaute mit dem Kopf über die Schulter und grinste ihn an. "Mein Name ist Emily. Gute Nacht.".

Stairway to HeavenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt