1 - Mein Leben vor der Erkrankung I

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Am 3. März 1984 erblickte ich als zweite Tochter einer deutschen Mutter und einem russischen Vater in Sibirien das Licht der Welt. Oh ja, es ist wahr, wenn ich von Sibirien spreche, dann denkst du automatisch an die Kälte und es stimmt. Im Winter habe ich schon mal minus 40 Grad am eigenem Leib erlebt, da frieren einem selbst die Wimpern ein. Doch es gibt viel mehr über das Leben in Sibirien zu berichten.

Aufgewachsen in einer Künstlerfamilie mit allen Freiheiten erlebte ich chaotische und unvergessliche Momente. Ich hatte das Glück, eine behutsame Kindheit inmitten einer unberührten Landschaft zu erleben. In der Nähe von den Altai Gebirgen und Mongolei wuchs ich in einer kleinen Stadt namens Nowoaltaisk auf. Meine Ferien verbrachte ich bei meinen Großeltern im nahgelegenen Dorf. So konnte ich nicht nur ein Stadtkind sein, sondern auch das Dorfleben in allen Zügen genießen. Ich war generell viel draußen. Es faszinierte mich mit den anderen Kindern und Erwachsenen im Kontakt zu sein, zu spielen, zu quatschen und zusammen schöne Zeit zu verbringen.

Im Dorf konnte ich alle Freiheiten genießen, mit den Tieren im Kontakt sein, die Natur entdecken und von dem schnellen, stressigen Leben in der Stadt abschalten.

Ich war ein sehr offenes, lustiges, kommunikatives Kind, was mit vielen Freiheiten, aber auch Werten und Normen in einer offenen Familie aufgewachsen ist. Ich durfte so oft es ging draußen spielen unter der Bedingung, dass auch die Hausaufgaben erledigt werden. Ich spielte mit den Kindern und ging auf sie zu. Ich war nicht scheu und genoss es mit anderen im Kontakt zu sein. Ich alberte gerne rum und brachte andere gerne zum Lachen. Meine Vermutung dafür ist, dass ich so offen war, weil ich schon mit 5 Jahren in eine Kunstschule, in der meine Mama Kunst unterrichtete, ging. Ich habe dort gerne meine Freizeit verbracht.

Wir haben zusammen gemalt, getanzt und musiziert. Es war eine Kunstschule, die Kunst, Musik und Tanz vereinte. Ich habe schon damals sehr früh meine Leidenschaft für das Tanzen entdeckt. Ich habe ganz klassisch mit Ballett angefangen, bis die Ballettschuhe zum Einsatz kamen. Das konnte ich nicht über mich ergehen lassen und schmiss die Schuhe und Ballett in die Ecke. Ich habe mich stattdessen dann auf die traditionellen russischen Tänze sowie lateinamerikanische Tänze konzentriert. Beim Musikunterricht schlief ich meistens ein, da ich nur Klavier spielen wollte, weil meine große Schwester auch Klavierunterricht nahm. Meine Hausaufgaben musste dann meine Schwester mit mir machen und mir die Musikstücke am Klavier beibringen. Ich war damals schon schlau, so dass ich dadurch das bekam, was ich wollte. Ich wollte mehr Zeit mit meiner Schwester zusammen verbringen.

Ich möchte mich an dieser Stelle bei meiner Schwester für alles entschuldigen, was sie in der Kindheit durch mich erleiden musste. Ein „lustiges Beispiel“ hierfür ist ihre Narbe an der rechten Hand. Da ich schon immer gerne mit dem Strom spielte, überredete ich sie einmal mit mir mitzuspielen. Das Spiel sah folgendermaßen aus. Wir setzten uns neben einer dreier Steckdose und ich gab ihr eine Gabel in die Hand, wobei ich selbst eine Stricknadel nahm. Meine Idee war, dass wir gleichzeitig die Gegenstände in die Steckdose reinstecken. Das Ergebnis von meinem kleinen Experiment war, dass ich noch die Stricknadel rechtzeitig loslassen konnte, aber meine arme Schwester nicht. Der Strom ging durch ihren Körper und kam durch ihre Hand raus. So denkt sie bis heute an mich, wenn sie ihre Narbe sieht. Es gab lauter solcher Geschichten, die mit meiner Schwester zu tun haben. Ich jagte mit aller Art Insekten hinter ihr oder schloss einen Stromkasten an ihren Fuß an, währen sie noch schlief, um sie aufzuwecken. Ich liebte es, Experimente zu machen.

Als Familie waren wir oft entweder in unseren Datscha (russischer Kleingarten mit einem Ferienhaus) oder in den Bergen. So fuhren wir mit meinen Eltern, meiner Schwester und den Schülern aus der Kunstschule in die Altaigebirge um zu zelten. Es war wunderschön. Wir konnten die Natur in vollen Zügen genießen. Wir schlugen unsere Zelte zwischen einem Fluss und einem Berg auf. Eines Tages wachte ich morgens auf und hatte wieder mal eine super Idee. Ich weckte meine Schwester auf und einen Jungen, um auf einen Berg zu klettern, während alle anderen weiter schliefen. Das Ende der Geschichte war, dass uns alle gesucht haben und wir von oben auf dem Berg ihnen zugewunken haben. Ich hatte schon damals viele verrückte Ideen.

Ich hatte schon immer ein sehr enges Verhältnis zu meinen Eltern, telefoniere bis heute noch fast täglich mit ihnen und besuche sie so oft es geht. Meine Eltern haben sich beim Kunst und Fotografie-Studium in Russland kennen gelernt. In meiner Kindheit war mein Vater sehr gesellig und lustig. Er war immer für eine unterhaltsame Überraschung gut. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern wie spannend ich es fand, als wir zusammen im Badezimmer schwarz/weiß Fotos entwickelt haben. Ich bin so glücklich und dankbar, dass wir die Fotos bis heute noch besitzen und sie uns anschauen können, um in den schönen Erinnerungen zu schwelgen. Wir fotografierten die sibirische Natur, Menschen und viele Familienportraits oder Fotos von den Feiern. Ich kann mich auch daran erinnern, dass mein Vater mit seinen Arbeitskollegen und Freunden eine kleine Stadt aus Eis in der Innenstadt gebaut haben. Es war so spannend und wunderschön, wie im Märchen.

Auch zu meiner Mama habe ich ein inniges, vertrautes Verhältnis. Wir können über alles reden, sie gibt mir immer einen guten Rat und kümmert sich um mein Wohlbefinden. Von der Seite meiner Mama kenne ich viele Familienmitglieder, die offen, familiär und unkompliziert sind. Sie haben mir beigebracht, dass man als Familie zusammen halten sollte und für einander da sein muss.

Mitten in der Pubertät – mit zwölf Jahren – bin ich mit meiner Familie sowie weiteren Verwandten nach Deutschland ausgewandert. Wir sind die sogenannten Spätaussiedler, auch als Russlanddeutsche bekannt. Zuerst wurden wir in Bramsche in einem Aufnahmelager empfangen. Es war alles sehr neu, aufregend, aber auch fremd. Ich empfand alles als sehr sauber, gut organisiert und modern. In Sibirien hatten wir zu dem Zeitpunkt  noch nicht so viele asphaltierte Straßen und über Nacht wurden auch die Straßen nicht mit den extra dafür entworfenen Maschinen gereinigt. Ich kann es bis heute noch spüren, wie es ist auf den Straßen in Sibirien mal schneller zu fahren, so dass der ganze Körper vibrierte, weil die Straßen so uneben waren.

Über Nacht waren wir bei meinen Verwandten. Es war für mich wie im Paradies. Ich durfte wie noch nie zuvor so viele Süßigkeiten auf einmal essen und bekam neue Kleidung geschenkt. Das erste Lied, was ich auf Deutsch an diesem Abend hörte, war „zehn kleine Jägermeister“ von den Toten Hosen. Ich verstand kein Wort, fand aber das Video dazu so witzig und schaute wie hypnotisiert auf den Fernseher während ich genüsslich einen Schokoriegel verschlang.

Nach nur zwei Tagen ging es dann weiter nach Sachsen, wo der Höllentrip seinen Ursprung nahm...

KAT GONE CRAZYWo Geschichten leben. Entdecke jetzt