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Es war nicht fair. Es war einfach nicht fair.
Seit einer gefühlten Ewigkeit bereits hallten diese Worte in Robins Kopf wider, waren zeitweise das einzige, woran er denken konnte. Tage, Wochen, die vergangen waren, und immer dieselben mantraartigen Sätze.
Es war einfach nicht fair.
Als würde das eine Rolle spielen. Als wäre irgendetwas im Leben fair.
Der Grabstein fühlte sich kühl an unter seinen Fingern, als er darüber strich. Es hatte geregnet letzte Nacht, die Feuchtigkeit war noch immer spürbar, auch wenn die Sonne die Wolkendecke bereits seit einiger Zeit durchbrochen hatte und ihre Strahlen auf die Erde schickte.
Wie unpassend. Wieso regnete es nicht in Strömen? So, wie es in Filmen immer geschah, wenn jemand das Grab eines geliebten Menschen besuchte?
Wenn es nach Robin ging, dann sollte verdammt noch mal nie wieder die Sonne scheinen!
Drei Wochen war es nun her, dass er zum ersten Mal hier gestanden hatte, umgeben von Leuten, von denen er die meisten gekannt hatte.
Um genau zu sein waren bloß zwei Personen da gewesen, denen er noch nie persönlich begegnet war, die er bloß aus Erzählungen kannte.
Nur zwei Leute aus dem früheren Leben seines Verlobten - ehemaligen Verlobten, korrigierte eine boshafte Stimme in seinem Hinterkopf. Und auch diese beiden hatten gewirkt, als seien sie bloß aufgrund einer unausgesprochenen Verpflichtung dort erschienen. Weil man das eben tat, wenn das eigene Kind, viel zu früh und unerwartet, verstarb.
Sie hatten versucht, Emotionen zu zeigen, zu trauern, doch es war mehr als offensichtlich gewesen, dass all das nicht mehr gewesen war als eine Fassade. Dafür hatte Robin ihre Blicke auf sich gespürt, sobald er nicht in ihre Richtung gesehen hatte. Blicke, die ihn musterten, ihn zu durchbohren schienen. Ihn stumm verurteilten, für das, was er war, und für das, was er getan hatte.
Das erste hatte ihn nicht gestört, er war es gewohnt, auf diese Art angeblickt zu werden. Das blieb nicht aus, wenn man eine Beziehung, die nicht der noch immer vorherrschenden heteronormativen Form entsprach, offen auslebte. Es war ihm egal, und auch seinem Verlobten war es immer egal gewesen.
Der zweite Vorwurf, der in diesen Blicken gelegen hatte, war schlimmer. Viel schlimmer.
„Du bist Schuld an all dem hier“, schrie dieser Vorwurf ihm stumm entgegen, ließ ihn verkrampfen und Übelkeit in ihm aufsteigen. „Wegen dir stehen wir hier alle, wegen dir ist er gestorben.“
Dieser Vorwurf war schlimm. Denn er war wahr.
„Es war nicht deine Schuld, hör auf, das zu glauben“, hatte Lola zu ihm gesagt, als sie vor dem offenen Grab gestanden und zugesehen hatten, wie der Sarg hinabgelassen wurde, verschluckt wurde von der finsteren Erde, die kein Licht mehr hindurchlassen würde, sobald das Loch gefüllt worden war.
Robin wusste nicht, wie oft er diese Worte gehört hatte, von Lola und von so vielen anderen, die versucht hatten, auf diese Weise die Last der Schuld von ihm zu nehmen.
Aber das konnten sie nicht. Das konnte niemand. Denn Tatsache war: Wäre er nicht gewesen, wäre das nicht passiert.
Abwesend ließ Robin seinen Blick über das Grab schweifen, bliebt an der Inschrift des Granitsteins hängen, die er schon so oft gelesen hatte, an jedem Tag der vergangenen drei Wochen.
Jonny Wells. Geboren am 22. Oktober, gestorben am 5. April.
Beim Anblick des Vornamens musste Robin wie immer kurz lächeln, erinnerte sich daran, wie überrascht er gewesen war, als Jonny ihm erklärt hatte, dass das nicht sein Spitzname und die Kurzform von Jonan oder Jonathan war, sondern dass seine Mutter ihn einfach wirklich so genannt hatte. Eine schöne Erinnerung, so unbedeutend sie auch für Außenstehende erscheinen mochte.
Und dann der Schmerz, sobald er den Nachnamen sah.
Ein Blick auf die Datumsanzeige seiner Uhr verriet ihm, dass es heute nur noch vierzehn Tage gewesen wären.
Exakt zwei Wochen bis zum geplanten Tag ihrer Hochzeit. Bis Jonny Robins Nachnamen angenommen und damit endlich jenen abgelegt hätte, den er mit den schmerzhaften Ereignissen seiner Vergangenheit in Verbindung brachte.
Doch dazu war es nicht mehr gekommen, und das würde es auch niemals.
Der Name, den Jonny mit der Person geteilt hatte, die ihm so vieles in seinem Leben genommen hatte, stand nun auf seinem Grab, für immer in Stein gebannt und verewigt. Und das Kleid, das Robin sich für die Hochzeit gekauft hatte, hatte er nun zur Beerdigung getragen.
„Nicht deine Schuld“, erklang wieder Lolas Stimme in Robins Kopf.
Am liebsten hätte er geschrien. Natürlich hatte er nicht gewollt, dass das passierte; niemals hätte er sich so etwas gewünscht. Selbst, wenn sie sich gestritten hatten, was bloß wenige Male in ihrer Beziehung vorgekommen war, hatte Robin niemals auch nur einen finsteren Gedanken Jonny gegenüber gehabt.
Und doch war es passiert. Wegen ihm.
Weil die Person, die einen so großen Hass gegenüber Robin gehegt hatte, ganz genau gewusst hatte, wie sie ihn am meisten verletzen konnte. Und Robin hatte gewusst, dass sie es gewusst hatte, so, wie auch Jonny es gewusst hatte.
Wie oft hatte Robin ihm versprochen, dass nichts passieren würde, dass er aufpassen würde, ihn beschützen würde.
Und am Ende hatte er es nicht geschafft. Hatte zusehen müssen, wie sein Verlobter in seinen Armen verblutete, während es eine verdammte Ewigkeit dauerte, bis der verdammte Krankenwagen endlich angekommen war.
Jonny hatte noch gelebt, als die Sanitäter ihn endlich notdürftig versorgen konnten, auch wenn Robin sich nicht sicher war, wie weit dieser Zustand tatsächlich noch als Leben bezeichnet werden konnte. Er hatte die Fahrt ins Krankenhaus überlebt, bei der Robin seine Hand gehalten und mit ihm gesprochen hatte, wobei er schon längst keine Antworten mehr erhalten hatte.
Zwei Stunden hatte Robin im Wartezimmer verbracht, abwechselnd auf einem Stuhl hockend und ruhelos durch den Raum laufend, bis ihn ein alter Mann irgendwann angefahren hatte, er solle sich verdammt noch mal hinsetzen.
Seine Gedanken waren wirr gewesen, abwechselnd bei Jonny und der Frage, wie es ihm ging, und bei dem Mann, der ihm ein Messer ins den Rücken gerammt hatte, als Robin bereits geglaubt hatte, dass alles gut werden würde.
Der geflohen war, während Robin bei seinem sterbenden Freund geblieben war, und der, laut Polizei, keinerlei Spuren hinterlassen hatte.
Zwei Stunden im Warteraum des Krankenhauses, die sich gleichzeitig endlos lang und unfassbar kurz angefühlt hatten. Als wäre Zeit nichts weiter als Illusion, vollkommen bedeutungslos.
Dann war die Krankenpflegerin eingetreten, hatte Robin gebeten, mit ihr zu kommen. Was genau sie gesagt hatte, wusste Robin im Nachhinein nicht mehr, alles, was in den nächsten Stunden geschehen war, war von einem dumpfen, grauen Schleier überdeckt.
Irgendwie hatte er es geschafft, Lola anzurufen, am Telefon das wiederzugeben, was er von der Pflegerin erfahren hatte.
Dass Jonny während der Operation, die ihm eigentlich das Leben retten sollte, gestorben war.
Lola hatte ihn abgeholt und ihn mit zu sich nach Hause genommen. Sie hatte geweint, das war ihn anzusehen gewesen, doch in Robins Gegenwart hatte sie sich bemüht, sich zusammenzureißen. Hatte nicht gefragt, was genau passiert war, obwohl sie es sich wohl ungefähr hatte denken können.
Und Robin hatte nichts gesagt.
Dass er wieder weinte, merkte er nicht. Sein Blick ruhte weiterhin auf dem Grabstein, der vor seinen Augen verschwamm, zu einem unidentifizierbaren grauen Fleck wurde. Ebenso schwer greifbar wie alles, was geschehen war.
Fünf Wochen später, und sie wären verheiratet gewesen. Fünf Wochen später, und die Inschrift hätte „Jonny Curtis“ gelautet, was nicht wirklich besser gewesen wäre, aber irgendwie doch ein winziges bisschen weniger schmerzhaft - vermutlich. Wer konnte das schon sagen.
Fünf Wochen später, und Robin hätte nicht vom Krankenhauspersonal zu hören bekommen: „Tut uns sehr leid, aber sie sind kein Angehöriger. Sie dürfen die Leiche nicht sehen.“
Fünf Wochen später, und das letzte Mal, dass er seinen Verlobten gesehen hätte, wäre nicht im Krankenwagen gewesen, angeschlossen an Maschinen und umgeben von Sanitätern, um sein Leben kämpfend. Bereits mehr tot als lebendig, aber doch noch irgendwie da.
„Nicht fair“, schoss es Robin ein weiteres Mal durch den Kopf, während er sich abwandte und den Weg wie automatisch zurück zum Ausgang des Friedhofs hinter sich brachte, noch immer unfähig, zu sehen, aufgrund der Tränen.
Seine Hand ruhte in seinem halb geöffneten Mantel, umklammerte das Messer, das er seit jenem Tag bei sich trug für den Fall, dass er dem Mörder der wichtigsten Person in seinem Leben erneut begegnen würde.

VergeltungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt