Mia und ich hatten uns noch einige Minuten unterhalten, bis sie zum Abendessen gerufen wurde. Wider meiner Erwartungen hatte mich das Telefonat schließlich doch müde gemacht, sodass ich entschied schlafen zu gehen, auch wenn ich dabei in Kauf genommen hatte, von Albträumen heimgesucht zu werden.
Jetzt pocht mein Kopf und ich fühle mich fast genau so erschöpft, wie noch vor sechs Stunden. Glücklicherweise, kann ich mich nicht an die Schreckensszenarien aus den Träumen der vergangenen Nacht erinnern. Das ich aber welche gehabt haben muss, steht bei meiner jetzigen Verfassung außer Frage. Ich quäle mich aus meinen Bett in der Hoffnung, dass die Schmerztablette, die ich im Wohnzimmer einwerfe, gegen das Dröhnen hilft. Und tatsächlich, in Kombination mit dem warmen Wasser, das sich kurz darauf aus dem Duschkopf über mich ergießt, lindert das Medikament meine Kopfschmerzen erheblich. Als ich aus der Dusche steige, ist nur noch ein leichtes Druckgefühl übrig, dass um Welten erträglicher ist.
Um auch der Müdigkeit entgegen zu wirken, beschließe ich mir einen Kaffee beim Bäcker gegenüber zu holen. Da ich heute sowieso nicht zur Arbeit gehe, kann ich auch entspannt in den Tag starten. Den Gedanken um die Geldeinbußen, die mein heutiges Abwesendsein verursachen wird, schiebe ich weit von mir weg. Damit will ich mich heute wirklich nicht befassen.
Dreißig Minuten später betrete ich die Bäckerei. Sofort umhüllt mich der Geruch von frisch gebackenem Brot und Kaffee. Genießerisch schließe ich die Augen und atme einmal tief ein. Ja, genau das braue ich jetzt! Als ich meine Augen wieder öffnen, schweift mein Blick einmal über die Theke und bleibt an den Croissants hängen, die gerade zu danach verlangen gekauft zu werden. Goldfarben glänzen sie und mein Magen brummt entschieden. Wie könnte ich mich gegen so ein Argument zur Wehr setzten. Ich trete an die Kasse und bestelle einen Milchkaffee und dazu eines der Croissants. Fasziniert beobachte ich wie das braune Gold in den Kaffeebescher fließt und heißer Dampf aufsteigt. Seit meiner Studentenzeit mit Mia ist Kaffee mein Wundermittel gegen Müdigkeit und hinzukommt, das er auch verdammt gut schmeckt! Glücklich bezahle ich mein Frühstück und sortiere mein Wechselgeld ein, während ich überlege, ob ich mir einen Platz in der Bäckerei suche, um zu essen oder ob ich lieber an die frische Luft will.
"Einen Kaffee, schwarz, bitte." bestellt der Kunde nach mir. Die Stimme verklingt und meine Gedanken legen einen Vollstopp hin. Auch meine Hand, die grade nach die Tüte greift, verharrt. Langsam drehe ich meinen Kopf in die Richtung des Mannes. Ich blinzle, weil ich es nicht glauben kann, aber das Bild bleibt. Chris. Er steht tatsächlich neben mir. Da habe ich ihn zehn Jahre lang nicht gesehen und innerhalb weniger Stunden gleich zwei mal. Was für ein irrsinniger Zufall, denke ich verbittert. Wie ich früher gehofft hatte, dass er wiederkommen würde, oder mir wenigstens in einem Brief erklären würde, warum er wortlos gegangen war. Aber nichts der gleichen war passiert. Und jetzt taucht er plötzlich auf und wirft mich emotional zurück in die Zeit von damals. Die Momente unseres ersten Widerstehens in der U-Bahn blitzten vor mir auf und damit auch seine abweisende Haltung mir gegenüber. Ich kann nichts gegen das Zwicken in meiner Brust tun, dass sich augenblicklich einnistet, auch wenn es mich wütend macht. Er hat verdammt noch mal kein Recht darauf, dass ich so auf sein Wiederauftauchen reagiere! Anscheinend habe ich zu lange angestarrt, denn er wendet sich von der Verkäuferin ab und mir zu. Erstaunen zeichnet für wenig Sekunden seine Mimik, dann bohrt sich sein Blick brennend im meinen und übermittelt, dass ich ihn in Ruhe lassen soll. Neue Wut flammt in mir auf. Ich soll ihn in Ruhe lassen! Er ist doch derjenige, der in meinem geordneten Leben aufgetaucht ist und er ist auch derjenige, das mir noch immer eine Antwort schuldig ist. Zumindest weiß ich jetzt sicher, dass es sich um Chris handelt. Denn dieser Blick zeigt, dass er mich erkennt.
Doch er lässt seinem stummen Befehl Taten folgen. Kein Wort, dass an mich gerichtet ist, entkommt seinen Lippen. Stattdessen bricht er den Blickkontakt ab, bedankt sich für den Kaffee, nimmt ihn an sich, bezahlt und wendet sich dem Ausgang zu. Ungläubig starre ich ihm hinterher. Das hat er nicht wirklich getan, oder?! Er will mich hier ernsthaft stehen lassen und kommentarlos verschwinden.
Wie heiße Lava ergießt sich mein über Jahre angestauter Frust in Form von reiner Wut in meine Adern. So leicht wird er nicht davon kommen! Er wird mir die Antworten geben müssen, die er mir seit so langer Zeit verschweigt und dabei interessiert es mich einen feuchten Dreck, ob er mit mir reden will. Ich schulde ihm gar nichts, aber er mir dafür alles!
Ich schnappe mir meinen Kaffee und die Tüte vom Tresen und eile ihm hinterher. Bald habe ich ihn eingeholt und schneide ihm den Weg ab, bevor er um die nächste Ecke biegt. Mit ausgebreiteten Armen zwinge ich ihn dazu stehen zu bleiben. Meinen Blick hefte ich dabei herausfordernd an seinen und signalisiere ihm, dass er keinen Schritt weiter gehen darf. Der genervte Ausdruck auf seinem Gesicht zeigt mir, dass er wohl schon damit gerechnet hat und weiß, was jetzt folgen wird. Weil mich diese Verfolgungsjagd ganz schon aus der Puste gebracht hat, kommen meine Wort nur gepresst und von meine Atemzügen durchbrochen hervor, doch sind sie dadurch nicht weniger laut. "Ich will Antworten!" wütend stoße ich die Worte hervor. "Nein." Simpel und endgültig wirft er mir das Wort entgegen. Aber ich denke gar nicht daran, ihm das durchgehen zu lassen. "Du wirst mir diese Antworten geben und dann werden sich unsere Wege trennen. Das bist du mir schuldig, Chris!" Ja, genau so meine ich meine Worte. Ich will ihn nicht in meinem Leben. Nicht nachdem, was er mir angetan hat. Aber ich will endlich wissen warum! Warum hatte er mich verlassen?
Seit ich ihn mit 15 zum ersten Mal an unserer Schule gesehen hatte, hatte ich für ihn geschwärmt und mich schließlich in ihn verliebt. Dann mit 16 hatte ich ihn um ein ersten Date gebeten. Mir war es egal gewesen, dass ich damit nicht das Klischee bediente, vom Jungen gefragt zu werden. Ich nehme mein Schicksal halt gerne selbst in die Hände. Und es war die richtige Entscheidung gewesen. Denn es hatte zwischen uns gefunkt und zwar so richtig. Schnell wusste ich, dass er die Liebe meines Lebens war, dass ich mich glücklich schätzen konnte, ihn gefunden zu haben. Und das war ich auch von ganzem Herzen. Zwei Jahre waren wir ein Paar gewesen und wir hatten uns gegenseitig unterstützt, er mich, als meine Mutter an Krebs starb, wenige Tage nach meinem 17. Geburtstag und ich ihn, als er zu Hause raus geschmissen wurde, kurz nach dem wir zusammen gekommen waren. Dem entsprechend hatte ich seine Eltern auch nie kennen gelernt. Aber der Punkt ist, wir waren für einander da gewesen, konnten uns auf den jeweils anderen verlassen. Und dann war er plötzlich weg und keiner wusste wohin oder warum.
Als sein Name erklingt, verzieht sich seine Miene kaum merklich. Ich bilde mir ein, auch in seinen Augen einen alten Schmerz aufblitzen zu sehen, will es wahrscheinlich sehen. Wenigstes macht er keine Anstalten mich umzurennen. Trotzdem durchbohrt mich wieder sein Blick, der mich zwingen will zur Seite zu treten. Ich frage mich unwillkürlich, ob er das Sprechen verlernt hat. Ich will, das er etwas sagt, mir antwortet. Doch kein Ton kommt über seine Lippen. Er sieht mich einfach nur weiter an. Auch gut, er wird als erstes nachgeben müssen. Also erwidere ich seinen Bick und warte. Und tatsächlich, ein Zucken seines Mundwinkels verrät, dass ich gewonnen habe. "Schön, dann reden wir eben" gibt er sich geschlagen. Seine tiefe Stimme jagt mir einen Schauer über den Rücken und mildert meine Wut. "Ich erzähle dir was du wissen willst, aber wir sollten an einen Ort gehen, an dem wir ungestört reden können." Dabei nickt er mir zu, was mich dazu bewegt, die Arme sinken zu lassen und einen Schritt zur Seite zu treten. Mein stilles Einverständnis, ihm zu folgen. Er tritt an meine Seite und zusammen laufen wir los einem unbekannten Ziel entgegen. Dabei fällt mir auf, dass er seine Geschwindigkeit deutlich drosselt, ihm Gegensatz zu vorhin. Also ist er wirklich vor mir weggelaufen. Ich habe keine Ahnung, was ich davon halten soll. Was ist sein Problem, dass er noch nicht einmal mit mir reden will?
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Dancing in the Sunlight
RomanceKURZGESCHICHTE Die 2. von zwei Geschichten, die unabhängig voneinander gelesen werden können. 𝒘𝒊𝒆 𝒘𝒊𝒓 𝒖𝒏𝒔 𝒘𝒊𝒆𝒅𝒆𝒓𝒇𝒂𝒏𝒅𝒆𝒏... Hätte Hannah gewusst, dass diese eine U-Bahnfahrt ihr Leben vom einen auf den anderen Augenblick unwiderru...