Kapitel 2: Realitätsverlust

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Kyara versuchte schon seit einer Ewigkeit, ihre Augen zu öffnen aber sie wollten ihr einfach nicht gehorchen. Immer wieder driftete sie in bizarre, verworrene Träume ab und egal wie sehr sie es versuchte, sie konnte nicht aufwachen. Ihr Verstand war benebelt und unklar. Wahrscheinlich fühlte es sich ähnlich an, wenn man auf Drogen war. Langsam wurde die Erinnerung klarer. Dieses Monster, ein Junge, ihr Hund! Wo war Mailo geblieben?

Langsam öffnete sie die Augen. Sie begannen sofort zu tränen, weil es so hell war. Sie kannte das Gebäude nicht. Vielleicht ein Krankenhaus? Nein, dieser Junge hatte gesagt eine Zentrale.

Kyara war benebelt und verwirrt. Es fühlte sich an wie ein Sturm in ihrem Kopf. Gegenüber von ihrem Bett hing ein großes hölzernes Kreuz. Sie schauderte und musste sich eingestehen, dass sie eindeutig zu viele Horrorfilme gesehen hatte, um das christliche Zeichen mit etwas Gutem in Verbindung zu bringen. Die schwere Bettdecke drückte auf ihre ungewöhnlich empfindlichen Gliedmaßen. Sie versuchte ihre Hand zu bewegen. Die Antwort war ein schmerzhafter Stich in ihrem Kopf.

Der Junge von vorhin saß neben ihr auf dem Bett und starrte auf sein Handy. Jetzt konnte sie ihn etwas genauer sehen. Er hatte braune Haare, blass-blaue Augen und war irritierend gutaussehend. Sie konnte sich trotz der ganzen Muskeln nicht vorstellen, dass er sie einfach so hochgehoben hatte. Es konnte sein, dass ihr das nur so vorgekommen war, weil sie kurz davor gewesen war das Bewusstsein zu verlieren, aber sie erinnerte sich daran, dass er sie einfach so hochgehoben hatte, als wäre sie Luft und das war sie nun wirklich nicht, auch wenn sie in letzter Zeit häufiger so behandelt worden war.

Um es kurz zu fassen: Er gehörte zu der Sorte von Jungs, die normalerweise so taten als wäre sie nicht mal im Raum. Oder als wäre sie eine Art besonders schleimige, eklige Schnecke auf dem Gehweg. Etwas, von dem man sich am liebsten ganz weit entfernte. Das war eine schlichte Tatsache und Kyara hatte auch nicht gerade das Bedürfnis, daran etwas zu ändern. Er war nicht ihr Typ.

Sie räusperte sich vorsichtig. Der Kopf des Jungen schoss ruckartig nach oben und er sah sie an, um sie zu mustern. „Ah, Dornröschen ist wieder aufgewacht", sagte er mit einem hämischen Grinsen. Irgendwie machte diese Aussage sie sauer. Da war sie gerade aus ihrem Ohnmachtsanfall wieder zu sich gekommen und dieser Idiot hatte nichts Besseres zu tun, als ihr dumme Bemerkungen an den Kopf zu werfen. Für wen hielt der sich eigentlich?! „Wie lange hab ich geschlafen?", fragte sie ihn misstrauisch. „Die ganze Nacht", antwortete er knapp. „Es hat eine Weile gedauert bis wir hier waren und das Gift hat ziemlichen Schaden in deinem Körper angerichtet. Keine Sorge, du wirst es wahrscheinlich überleben. Du solltest trotzdem etwas essen." Mit einem Blick, der keinen Widerspruch duldete, gab er ihr ein Glas Wasser und einen Teller mit Frühstück, obwohl es sicherlich schon später Nachmittag war. Dementsprechend stand es wohl schon eine Weile hier. Das merkte sie daran, dass das Ei und das Toast kalt waren, aber es schmeckte trotzdem, auch wenn sie eigentlich keinen Hunger hatte. Die Gegend um ihren Magen herum fühlte sich an wie gelähmt. „Danke."

„Kein Problem", sagte er und grinste selbstgefällig. Kyara fand ihn unsympathisch.

Nachdem sie gegessen hatte ging es ihr deutlich besser. Die Kopfschmerzen waren verschwunden und auch ihre Laune hatte sich gebessert. Normalerweise war sie nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen, aber diese unverhohlene Arroganz, die dieser Typ an den Tag legte machte sie wahnsinnig. Sie erinnerte Kyara an Claire.

„Also", fing sie an, um die unangenehme Stille zu überwinden, die entstanden war. „Was genau hat mich da im Wald eigentlich angegriffen?"

„Du weißt es wirklich nicht?" Sie musste sich zurück halten, um nicht mit den Augen zu rollen. „Sonst würde ich wohl nicht fragen." Der Junge überlegte. Wahrscheinlich suchte er nach den richtigen Worten. Einige Sekunden vergingen und sie wurde immer neugieriger auf seine Antwort. Plötzlich stand er ohne Ankündigung auf und ging. „Hey! Wo willst du hin?", rief sie entrüstet. „Warte hier", befahl der Junge. Damit verschwand er aus dem Zimmer. Für wen hielt der sich eigentlich?

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