Kapitel 4- hold back the river, let me look in your eyes

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In der folgenden Woche lese ich nur noch wenige Briefe pro Tag, ist es etwas vorüber ich mich zwischen all der Verwirrung jeden Tag aufs neue freue.

Einmal habe ich danach Harry angerufen, doch ich habe kein Wort rausbekommen. Nachdem er sich das fünfte Mal erkundigt hat, ob jemand am anderen Ende des Hörers ist, habe ich aufgelegt. Es hat sich nicht richtig angefühlt.

Vielleicht, weil Harry ein Kind hat und verheiratet war.

Vielleicht weil er alt ist.

Vielleicht weil ich feige bin.

Oder vielleicht weil er nicht mehr mein Harry ist.

Ihn, meinen Ex-Partner alt zu sehen, fühlt sich an wie ihm beim Sterben zuzusehen. Das war etwas was wir zusammen machen wollten, nicht wenn einer noch jung ist, nicht wenn einer den anderen aufhalten möchte.

***

Liam und Niall sind derweil bei ihrem 13 Zeitreisenden angekommen. Doch es läuft schon längst nicht mehr so gut, wie am ersten Tag. Teilweise dauert es Stunden die einzelnen Reisenden zu überzeugen. Und auch wenn Niall und Liam es nicht mehr hören können, kann ich es nicht lassen mich jeden Tag bei ihnen zu bedanken.

Doch immerhin, es geht voran.

***

Ich sollte Harry anrufen, dass weiß ich. Ich habe es ihm immerhin versprochen. Auch Yuno meint das. Dey gibt mir ein komisches Gefühl. Vielleicht weil dey erst vor einigen Wochen so plötzlich aufgetaucht ist und meinte dey wäre vorher in England gereist -da wo Harry auch vorher mal war. Aber gleichzeitig ist dey auch super nett, weshalb sich langsam neben dem komischen Gefühl ein Gefühl von Vertrauen einsiedelt. Ich würde den, vielleicht auch wegen deren Alters fast mit einen Onkel oder einen Familienfreund vergleichen.

Oft hilft Yuno uns allen bei der Recherche über die anderen Zeitreisenden, deren Weisheit dabei oft helfend. "Ich bin mir sicher Harry freut sich, wenn du ihn anrufst. Ich will nicht sagen, dass bist du ihm schuldig, euch schuldig, aber das bist du. Es wird dir gut tun, Louis.", ermutigt dey mich und ja, vielleicht hat dey recht.

Nervös fahre ich mir durch die Haare, bevor ich ganz einfach mein Handy zucke. Ja, Yuno hat recht.

"Hallo, Harry."-"Oh, Hallo mein Herz." Ich muss sagen für einen Moment bleiben meine Gedanken stehen. Diese Worte wieder von seiner Zunge zu hören, erweckt das warme Gefühl in meiner Brust, welches ich in den letzten Monaten schätze ich viel zu wenig gespürt habe. Ich vermisse es in jedem Moment in dem es nicht da ist. Ich vermisse es in jedem Moment in dem er nicht da ist.

"Hallo.", stottere ich unnötiger Weise noch einmal. "Schön, dass du dich meldest." Er klingt ehrlich, ehrlich erfreut, ehrlich geduldig und das ist was mich verwirrt. Da ist keine Ironie, da ist einfach nur blanke Freude. Ich weiß nicht so recht, was ich antworten soll, weshalb ich ein kleines "Mhm hm" summe, worauf einige Sekunden von Stille folgen, wo jeder nicht so ganz weiß, was er sagen soll.

"Hast du die Briefe gefunden?", beginnt Harry dann. "Ja, habe ich. Ich habe bisher schon bestimmt 50 gelesen."-"Frühling 1957 also.", murmelt Harry und ich stoppe in meiner Bewegung, als ich gerade den Kaffee an meine Lippen setzten will. Woher weiß er das noch?

"Wie? Wie kannst du das wissen?" "Ich habe sie auch noch 100 mal nachdem ich sie geschrieben habe gelesen. Was glaubst du denn, dass ich in meinem ersten Jahr irgendetwas anderes zu tun hatte, als zu arbeiten, dich zu vermissen und zu hoffen, dass du diese Briefe irgendwann von alleine findest, hätte ich es nicht bis hierher geschafft?"

"Nein, nicht wirklich.", gebe ich zu. Es ist einige Sekunden still, niemand weiß so recht, was er sagen soll.

"Louis, ich werde bald sterben.", meint er mit ruhiger Stimme, doch gleichzeitig viel zu plötzlich und viel zu schnell. "Ich hab es irgendwie im Gefühl, weißt du? Oder ich werde einfach nur alt.", lacht Harry nervös und ist allgemein eher halbernst, doch trotzdem jagen mir seine Worten einen höllischen Schreck ein.

"Sag sowas nicht.", meine ich, während mein Kinn sich bei dem Gedanken kräuselt und meine Nase unangenehm zu kribbeln beginnt, so wie es immer ist, wenn ich probiere meine Tränen zurückzuhalten. "Blau?", fragt er dann unsicher, nachdem ich danach nichts mehr sage. Es war mein und Harrys Codewort einfach loszulassen, wenn wir unsere Gefühle mal zurückgehalten haben. Wir haben es häufig benutzt, wenn wir gesehen haben dem einen ist zum Weinen zu Mute. Und dann haben wir einfach losgelassen, weil wir nicht wollten, dass wir uns in solchen Momenten voneinander zurückhalten oder gar verstecken mussten. Wir haben es beim Streiten, als auch beim Sex, oder wenn man einfach mal einen schlechten Tag hatte benutzt. Es ging dabei nicht immer ums Weinen, sondern nur darum verletzlich voreinander sein zu können, egal in welchem Moment, egal in welcher Form.

"Ja.", murmele ich. "Blau." Ich lasse die Träne aus meinem Augen fließen. "Du hast mir Angst gemacht, Harry. Sag's mir ernst oder garnicht. So kann ich damit nicht umgehen. Ich bin so verwirrt in letzter Zeit. Das macht es nicht besser.", bringe ich unter Schniefen und Schluchzen hervor. Es geht bei "Blau" nicht nur um Taten, sondern um das höchste der Verletzlichkeit. Worte. Zu beschreiben, was man fühlt, komische Gefühle, die man manchmal garnicht erklären kann, aber einen wichtig erscheinen.

"Es tut mir leid.", meint Harry ernst. "Meinst du, dass du einen Scherz darüber gemacht hast oder dass du sterben wirst? Oder... das Andere?", möchte ich wissen. "Es tut mir leid, dass ich es nicht weiß."

[914Wörter, 05.Okt.2021]

J

Centuries ApartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt