°○ Eduard ○°
Heute war es spät geworden. Schon ein Uhr, bevor ich überhaupt daran gedacht hatte, ins Bett zu gehen, dann waren weitere zwei Stunden vergangen, bis ich es dann wirklich getan hatte. Nur schlafen konnte ich immer noch nicht.
Den ganzen Abend über hatte Maria mir nicht auf meine SMS geantwortet. Ich wollte wissen, wie es ihr ging, ob der Ärger mit ihrem Vater sehr schlimm gewesen war. Und ob zwischen ihnen jetzt wieder alles in Ordnung war.
Herr Rehberg war zornig gewesen, das hatte ich gleich bemerkt. Dieser Ausdruck in seinen Augen, so kalt und dunkel, der hatte mir echt Angst gemacht. Da hätte ich mich am liebsten in Luft aufgelöst und Maria war es offenbar genauso gegangen. Nur hatte ich nicht ganz verstanden, warum. Was hatte Maria getan, um Ihren Vater so sehr gegen sich aufzubringen? Das einzige, was man ihr als Fehler abrechnen könnte, war, dass sie sich hatte überreden lassen, zu dieser Party zu gehen. Genau das war wohl der Punkt. Und sie hatte sich von Leon einwickeln lassen. Nur wer wollte ihr das ernsthaft vorwerfen? Klar, besser wäre es gewesen auf mich zu hören und sich gar nicht erst auf ihn einzulassen. Aber gut, jetzt wusste sie es ja besser. Jetzt war Leon Geschichte und wenn dann noch ein bisschen Zeit ins Land ging, dann wäre ich an der Reihe. Dann würde Maria endlich erkennen, was sie an mir hatte und wir würden zusammen glücklich werden, endlich glücklich.
Gegen mich als festen Freund seiner Tochter hätte Herr Rehberg sicher nichts. Ich war anständig, das hatte er heute erst gesagt. Und sonst auch schon. Er konnte mich gut leiden und dann würde er sich uns auch kaum nicht in den Weg stellen. Er wusste, dass ich es gut mit Maria meinte, dass sie es schön hätte bei mir. Dass ich nie zulassen würde, dass ihr etwas passierte oder dass jemand sie schlecht behandelte.
Nein, so etwas wie mit dem Video, das würde sich nicht wiederholen, da würde ich schon aufpassen.
Ich würde Maria beschützen, ihr das Gefühl geben, dass sie bei mir sicher war und geborgen. Und dann würde sie auch irgendwann verstehen, dass wir zusammengehörten.
Solange musste ich nur Geduld haben.
Ich warf noch einen Blick auf mein Handy, schon 03:43 Uhr und immer noch keine Antwort von Maria. Na gut, um diese Zeit würde wohl auch keine mehr kommen.
Wahrscheinlich schlief sie schon längst und ihr Handy hatte sie vielleicht an ihren Vater abgeben müssen, wegen der Sache mit dem Video.
"Wie du siehst, geht es ihr gerade nicht so gut."
Herr Rehberg machte sich Sorgen um seine Tochter und wollte nicht, dass sie sich aufregte. Vielleicht hatte er ihr deswegen das Handy weggenommen, weil er sie beschützen wollte. So etwas taten Eltern eben, ihre Kinder beschützen. So wie meine Eltern, die erlaubten mir auch nicht auf Partys zu gehen oder auf Klassenfahrten.
Früher hatte meine Mutter mir auch immer verboten, draußen mit den anderen Kindern in den Straßen zu spielen. Da hatte ich immer viel im Haus gespielt oder im Garten, erst alleine und dann, als ich Ranja hatte, mit ihr zusammen.
Wenn es schlechtes Wetter gewesen war, hatte ich immer mit Ranja Verstecken gespielt. Darin war sie immer gut gewesen.
Ich hatte sie immer eine ganze Weile suchen müssen und dann irgendwann hatte ich dann gerufen: "Mäuschen, mach mal Piep!" Und dann hatte sie "Piep" gerufen mit ihrer hellen Stimme und dabei leise gekichert und immer wieder gerufen, bis ich sie dann gefunden hatte, im Kleiderschrank, unterm Bett, einmal auch mal in der schweren Holztruhe im Flur. Da war sie dann von alleine gar nicht mehr rausgekommen.
Manchmal hatte ich uns auch eine Höhle gebaut mit Wolldecken, die ich über den runden Tisch in dem Büro meiner Mutter gelegt hatte und unter dem dann viele flauschige Kissen lagen. Da hatten Ranja und ich dann gesessen und uns Comics angesehen. Später, als in die Schule gekommen war, hatte ich ihr auch vorgelesen. Meine Mutter hatte früher als Anwältin gearbeitet in einer kleinen Kanzlei. Aber immer nur vormittags, solange ich im Kindergarten oder in der Schule gewesen war. Und dann, als Ranja zu unserer Familie gekommen war, war sie dann ganz Zuhause geblieben. Damit sie sich um Ranja kümmern konnte und um mich wenn ich von der Schule kam. Mittagessen kochen, mir bei den Hausaufgaben helfen, Ranja wickeln, vorlesen, zum Arzt fahren... "Da ist ein Tag schnell rum", hatte sie immer gesagt. Aber sie hatte sich gerne um uns gekümmert.
"Du bist eine echte Vollblutmutter", hatte Tante Erika, die kleine Schwester meines Vaters, immer gesagt und "Denk doch auch mal an dich." Meine Mutter hatte dann immer dagegen gehalten: "Für Kinder entscheidet man sich und dann muss man sich auch kümmern."
Und das hatte sie auch getan, tat sie noch immer. Ihr war es wichtig, eine gute Mutter zu sein.
"Und ohne Regeln geht es nicht." Meine Mutter war schon immer streng gewesen, hatte viele Regeln aufgestellt und Verbote.
Vater war da anders gewesen. "Lass ihn doch ruhig mit den anderen in den Straßen spielen, Regina", hatte er immer gesagt. "Was soll da schon passieren?"
"Da kann genug passieren", hatte meine Mutter erwidert.
"Mach dich nicht verrückt!", hatte mein Vater daraufhin gesagt, "Bleib mal locker!" oder so etwas in der Art.
Er hatte meine Mutter nie ernst genommen, wenn sie mit ihren Geschichten gekommen war von bissigen Hunden oder bösen Männern in Lieferwagen mit abgedunkelten Fenstern. Oder von Kindern aus schlechten Familien. Solche wie Leon. Mit dem sollte ich auch nicht spielen, hatte sie immer gesagt. Vater hatte es mir trotzdem erlaubt. In dieser Sache hatte er sich immer durchgesetzt, dass ich mit Leon spielen durfte, in unserem Garten, manchmal auch in den Straßen mit den anderen Kindern.
"Mach dir keine Sorgen", hatte mein Vater immer gesagt.
Aber meine Mutter hatte sich Sorgen gemacht, immer. Wegen den bissigen Hunden, den bösen Männern in den Lieferwagen und wegen den Kindern aus schlechten Familien.
"Da passiert nichts." Auch das hatte mein Vater immer gesagt und ich hatte ihm geglaubt, dass da nichts passiert. Und so war es auch immer gewesen. Keine bissigen Hunde, keine bösen Männer. Aber eines Tages war dann doch etwas passiert und damit hatte niemand gerechnet. Außer meiner Mutter.
"Du bleibst weg von dem See, hörst du Eddie, dort ist es zu gefährlich."
Ich hatte nicht auf sie gehört. Hätte ich es mal getan. Jetzt war es dafür zu spät.
Noch ein Blick auf das Handy.
04:13 Uhr.
Ich gähnte und schaltete die Lampe auf dem Nachttisch aus. Morgen würde ich total übermüdet sein und das wäre diese Woche nicht das erste Mal.
Im Winter wurden meine Probleme mit dem Einschlafen immer schlimmer. Das wusste meine Mutter auch, aber sie zwang mich dann trotzdem immer, zur Schule zu gehen - ob ich jetzt geschlafen hatte, oder nicht.
"Du musst deine Schule machen", sagte sie immer. "Das ist das wichtigste."
Ich schloss die Augen, da hörte ich etwas.
Ein Geräusch aus dem Flur wie das schnelle Trappeln von Schuhen auf Laminatboden; und noch ehe ich mir sicher sei konnte, dass es wirklich da gewesen war, war es auch schon wieder weg.
Das kommt davon, wenn man zu wenig schläft, dann hört man etwas, wo nichts ist. Ich schloss wieder die Augen und drehte mich zur Wand. Vielleicht sollte ich demnächst mal zum Arzt gehen, der würde mir dann etwas verschreiben. So etwas wie die Tabletten, welche meine Mutter zum Einschlafen nimmt, seitdem - wieder das Trippeln und wieder kam das Geräusch aus dem Flur.
Ich rollte mich tiefer in die Decke ein und kniff die Augen noch fester zusammen, als ob das etwas helfen würde.
Was konnte das sein, dieses Geräusch, das (wie kleine Schuhe auf Laminatboden) konnte nichts sein, da war nichts. Und wenn da nichts war, dann sollte ich auch nichts hören.
Ich war doch nicht verrückt!
Ich musste mich nur ablenken von diesen (schnellen Schritten) Gedanken und mir etwas Schönes vorstellen so etwas wie ein Sandstrand am Meer, wo die Sonne scheint und - es klopfte an der Tür TOK-TOK, dann wieder schnelle Schritte, weg von der Tür.
Mein Herz klopfte jetzt schneller; ich bekam eine Gänsehaut.
Mir war kalt - eiskalt bis in die Zehenspitzen und wie konnte das sein? Das Fenster war zu, die Heizung stand auf dritter Stufe.
Ich versuchte ruhig zu atmen und merkte wie kalte Luft meine Lungen füllte und diese Luft, so kalt und feucht, erinnerte eher an einem Winterspaziergang draußen, als an die Luft in einem Schlafzimmer bei eingeschalteter Heizung und geschlossenem Fenster.
Ich wusste doch ganz genau, dass das Fenster geschlossen war! Und dass die Heizung an war!
Wie konnte es dann trotzdem so kalt sein?
TOK-TOK, fast hätte ich laut aufgeschrien.
Immer mit der Ruhe, mahnte ich mich, das bildest du dir nur ein, mach dich nicht verrückt!
Ich schaltete das Licht ein und blickte zum Fenster, das war zu - natürlich, ich hatte es ja selbst geschlossen und sonst war niemand hier gewesen, ganz bestimmt.
Ich überlegte kurz, die Zimmertür zu öffnen, um auf dem Flur nachzusehen, entschied mich dann jedoch dagegen.
Ich war doch nicht paranoid!
Nein, ich würde bestimmt nicht die Tür öffnen, geschweige denn in den Flur gehen.
Da war nichts, ganz sicher (und falls doch...), ich war nur müde (...dann wäre es im Zimmer sicherer).
Ich musste dringend schlafen und vielleicht ließ meine Mutter mich Morgen ja doch mal zu Hause.
Am besten sollte ich einfach liegen bleiben, das Licht ausmachen und wieder an den Strand denken, der weiße Sand darauf, die sanfte Brandung des Meeres - TOK-TOK.
Ich schoss aus dem Bett, lief zur Tür, legte die Hand an die Klinke und drückte sie herunter.
Abgeschlossen.
"Piep-piep.", sagte eine helle Stimme, ganz nah an der Tür und kicherte dann.
Ranja... nein, das konnte nicht sein. Sie war da nicht und überhaupt gar nichts war da! Das bildete ich mir alles nur ein!
Ich nahm noch ein paar Atemzüge, weiße Luftwölkchen kamen dabei aus meinem Mund. Drehte mich um und sah zum Fenster, das stand sperrangelweit auf, aber wie - ich hatte doch eben noch gesehen, dass - TOK-TOK.
Um mich herum begann es sich zu drehen, erst langsam, dann immer schneller.
Ich versuchte einen Punkt zu fixieren, irgendwo auf dem Boden, aber ich fand keinen.
Mir wurde schlecht und (Atmen!) schwindelig, besser ich setzte mich erst mal hin und (Du musst atmen!) versuchte wieder klar zu kommen. Kalter Schweiß brach mir aus. Ich tastete mit den Händen nach etwas, irgendeinen Halt.
Endlich fand ich etwas, die Türklinke, ich drückte sie herunter und ließ mich langsam zu Boden gleiten.
Die Tür öffnete sich, auch wenn ich doch genau wusste, dass sie das nicht hätte tun dürfen. Sie öffnete sich und ließ kalte Luft herein, noch kältere als jene in meinem Zimmer.
Ich drehte mich um, blickte in den Flur.
Die Tür zu Ranjas Zimmer stand offen.
Ich kämpfte mich auf die Beine, lief darauf, auch wenn ich es gar nicht wollte. Aber dieses Gefühl, als ob da jemand wäre, es zog mich an, rief mich zu sich.
Ich versuchte mich dagegen zu wehren, in mein Zimmer zurückzukehren und die Tür zu schließen, stattdessen lief ich nur weiter auf das Zimmer zu.
Die Kälte schien jetzt noch eindringlicher zu sein, fast schon beißend und mich durchfuhr ein Schauder, während meine Füße mich mit jedem Schritt näher in Richtung von Ranjas Zimmer zogen, egal wie sehr sich alles in mir dagegen sträubte.
Kurz vor der Tür hielt ich an, atmete mehrmals tief durch. Scheinbar hatte ich eine ganze Zeit lang die Luft angehalten, dann trat ich ins Zimmer ein, welches vom Vollmond am Fenster in bleiches Licht getaucht wurde.
Mutter stand dort neben dem kleinen Bett, den Blick starr an die Dachschräge darüber gerichtet. Dort hingen immer noch die Bilder, welche Ranja gemalt hatte.
Wild gezeichnete Linien, bunte Muster auf weißem Papier.
Hier hatte sich in all den Jahren nichts verändert. Dieselben fliederfarbenen Tapeten mit Blümchenmuster, dieselben Spielsachen in den Kisten, dieselbe Bettwäsche mit Herzchen drauf.
Als sei die Zeit hier stehen geblieben, damals an diesem verfluchten sechsten Dezember, als sei sie noch hier.
"Mutter, was tust du hier?"
"Sie hat immer so gerne gemalt, weißt du noch?", meinte meine Mutter, ohne den Blick von den Bildern zu nehmen.
"Ja", antwortete ich. "Darin war Ranja gut."
"Sie hätte noch so viel-" Ihre Stimme brach. Sie nahm einen langen Atemzug, seufzte. "Und das Singen hat sie geliebt. Ich wünschte, einmal würde ich sie noch hören."
Sie sah mich immer noch nicht an, blickte auf die Bilder an der Wand und fuhr mit dem Finger die Linien auf dem Papier nach. Tränen traten in ihre Augen, als sie weitersprach: "Grün war ihre Lieblingsfarbe. Sie hat immer alles grün gemalt."
"Ja, ich weiß."
"Die Stifte hatte ich ihr noch gekauft, einen Tag, bevor..." Sie stieß einen erstickten Schluchzer aus. "Manchmal, da denke ich, sie ist noch hier."
Ja, das dachte ich auch manchmal (Und ich wusste es doch!), dass sie noch hier war, dass sie an die Tür klopfte und mich zun Spielen rief (PIEP-PIEP).
Meine Mutter weinte jetzt, nicht laut, aber dafür zitterte sie umso heftiger. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen, so wie sie da vor mir stand, ihr gesagt, wie leid mir das alles tat, doch vermutlich wollte sie das gar nicht, würde mich vielleicht sogar von sich stoßen, wenn ich ihr zu nah käme.
Würde sagen, dass das alles meine Schuld war.
Dass Ranja jetzt schon sieben Jahre alt wäre, wenn ich damals besser auf sie aufgepasst hätte.
Ein glückliches Mädchen, das gerne zur Schule ging, sich in ihrer Freizeit mit Freundinnen zum Spielen traf, Klavierunterricht nahm und zum Volleyballtraining. ging.
Wenn ich aufgepasst hätte, dann wäre Ranja noch am Leben, dann würde sie älter werden.
Aber ich hatte nicht aufgepasst.
Und jetzt blieb sie für immer zwei.
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Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 1
Teen FictionDie Hölle, das sind immer die anderen. Braucht es dafür noch Beweise? Maria bekommt bereits mehr als genug davon. In ihrer Klasse wäre sie am liebsten unsichtbar, wird stattdessen immer mehr zur Zielscheibe der anderen. Solange, bis ihr jemand zur...