56. Denk nicht mal dran!

7 2 0
                                    

° Eduard °

Ich hatte mir die Haare wieder abrasiert, bis auf wenige Millimeter. So gefiel ich mir nach wie vor besser als mit den Locken.
Meine Mutter hingegen war weniger begeistert von meiner neuen Frisur.
"Wie kann man sich nur so verschandeln?", hatte sie mir eben noch vorgeworfen. "Guck dich doch mal an! Wie du aussiehst! Als ob man dich in irgendein Loch geworfen hätte! Was sollen da die Leute denken?"
Das war mir ganz egal, hatte ich ihr versichert, wobei ich noch nicht mal gelogen hatte. Sollten die Leute doch denken, was sie wollten.
Wenn ihnen nicht gefiel, was sie sahen, konnten sie ja immer noch woanders hingucken!
So frech hätte ich früher nie dahergeredet, hatte meine Mutter daraufhin gesagt. Was war nur aus mir geworden?
Mit der Frage war das Gespräch beendet gewesen. War es immer.
Was sollte ich darauf auch antworten? Ich wusste ja selber nicht, was mit mir los war.
Ich war ständig wütend. Das allein war nichts Neues. Wut war mein ganzes Wesen. Es füllte mich aus. Viele Jahre schon.
Seit dem Tag, an dem Leon Ranja hatte aufs Eis laufen lassen. Dem Tag, an dem ich nicht aufgepasst hatte. An dem ich zugelassen hatte, dass meine kleine Schwester gestorben war.
In letzter Zeit allerdings schien meine Wut eine andere Qualität zu haben. Schien in mir anzuschwellen. Immer weiter und war schon jetzt kurz vorm Platzen.
Ich nahm mir mein Deo vom Fliesenvorsprung neben dem Waschbecken, sprühte mich großzügig damit ein, tupfte mir noch etwas Abdeckcreme auf einem Pickel an meiner Stirn und nahm dann noch die Pinzette, um mir damit die Augenbrauen nachzuzupfen, als es an der Tür klingelte.
Wer könnte das jetzt sein, fragte ich mich, beschloss dann jedoch, es einfach klingeln zu lassen. Ich hatte schließlich gerade besseres zu tun und meine Mutter war schließlich auch noch da. Sollte die doch an die Tür gehen! Die hatte sich schon seit Stunden im Schlafzimmer eingeschlossen, um sich dort mit Rotwein zuzudröhnen; und dabei hatte der Arzt ihr bei der Entlassung noch dringend davon abgeraten, Alkohol mit Pipamperon zu mischen.
Aber was sollte ich mich darüber aufregen? In spätestens drei Jahren, ab meinem achtzehnten Geburtstag, wäre das alles nicht mehr mein Problem. Dann wäre ich hier weg, für immer!
Es läutete erneut und gleichzeitig ertönte noch ein anderes Geräusch: Der Klingelton meines Handys.
Ich warf einen Blick aufs Display und runzelte die Stirn.
Leon ruft an.
Was zum Teufel? Das war nun wirklich der letzte Mensch, von dem ich angerufen werden wollte - mit Abstand!
Ich ging ran.
"Was willst du?"
"Wie nett!" Leon lachte. "Ich wünsche dir auch einen schönen Tag."
"Warum rufst du mich an?"
"Verabschiede dich doch mal kurz von deinem Spiegelbild und komm ans Fenster!"
"Woher weißt du-"
"Bei dir im Badezimmer brennt Licht", sagte Leon. "Und ich kenne dich. Du hast schon immer Ewigkeiten vorm Spiegel gestanden", fügte er dann noch hinzu. "Zeitverschwendung, wenn du mich fragst."
"Ich frag dich aber nicht!"
"Wo bleibst du denn jetzt?"
"Was willst du?", fragte ich wieder.
"Dass du ans Fenster kommst", sagte Leon und betonte seine Antwort wie eine Frage. "Hab ich das nicht gesagt?"
"Interessiert mich einen Dreck, was du sagst!"
"Ich hab eine Überraschung für dich."
"Wie schön!", rief ich in den Hörer. "Verarschen kann ich mich auch selber!"
"Jetzt komm doch wenigstens mal gucken!"
"Warum sollte ich?"
"Meine Güte!" Leon seufzte. "Du stellst dich auch an! Warte... Hey Süße! Komm mal rüber!", hörte ich ihn im nächsten Moment rufen. "Hier, sag mal was!", forderte er nach einem kurzen Moment, in dem ich mich bereits gefragt hatte, warum ich nicht einfach aufgelegt hatte.
"Hallo Eddie!", erklang eine andere Stimme, etwas heiser aber dennoch unverkennbar. Meine Laune besserte sich schlagartig.
"Maria?", fragte ich, eilte gleichzeitig zum Fenster und sah von dort hinaus auf die gegenüberliegende Straßenseite, dort standen Leon und Maria im trüben Lichtkegel einer Straßenlaterne und schauten zu mir hoch. "Was tust du denn hier? Ich dachte-"
"Kannst du mir einen Gefallen tun?", fiel Maria mir ins Wort.
"Ja, klar", sagte ich. "Worum geht's denn?"
"Vater will mir heute Abend Vokabeln abfragen. Von zwei Lektionen. Und ich kann die noch nicht so gut... also eigentlich-"
"Hast du noch dein Französischbuch aus der neunten?", mischte Leon sich ein.
"Ja", sagte ich.
"Dann bring ihr die Vokabeln doch eben bei!"
"Den Text von Lektion Fünf muss ich auch noch abschreiben", sagte Maria.
"Den ganzen Text?", fragten Leon und ich gleichzeitig.
"Ja." Maria hustete. "Das will Vater so."
Leon zischte. "Was für ein Arschloch!"
"Das kriegen wir alles hin", sagte ich. "Kein Problem."
"Wirklich?", fragte Maria.
"Klar!"
"Gut", meinte Leon. "Dann hilf Maria mal bei den ganzen Sachen und dann bringst du sie zu mir nach Hause. Schafft ihr es bis sieben?"
"Ja, bestimmt", antwortete ich.
"Gut", sagte Leon wieder. "Und du bringst sie! Krieg ich mit, dass du sie-"
"Ich kann doch auch alleine zu dir kommen!", fiel Maria ihm ins Wort. "
"Das wirst du aber nicht!", entgegnete Leon.
"Aber von hier ist das doch gar nicht weit, noch nicht mal fünf Minuten", sagte Maria.
"Eddie bringt dich trotzdem!"
"Das mach ich gerne", meinte ich.
"Darauf wette ich." Leon lachte wieder. "Kommst du jetzt zur Tür?"
"Ja, ich komme", antwortete ich und beendete daraufhin das Telefonat, noch bevor Leon noch etwas sagen konnte. Lief dann zur Tür und knipste das Licht in meinem Zimmer aus. Doch anstatt danach direkt zur Haustür zu laufen, kehrte ich noch einmal zum Fenster zurück und schaute hinaus. Zur Straßenlaterne, in dessen Licht Leon und Maria immer noch eng beieinander standen. Sie redeten.
Ich öffnete leise das Fenster.
"... freut sich bestimmt schon auf dich." Schon wieder dieser belustigte Klang in Leons Stimme. Dafür hasste ich ihn fast noch mehr, als für sein arrogantes Grinsen. Wenigstens das blieb mir jetzt erspart.
"Ich kann das heute unmöglich alles in den Kopf bekommen!", meinte Maria, ohne auf Leons Bemerkung einzugehen.
"Dann lernst du eben nur so viel, wie du schaffst."
"Das wird Vater nicht reichen."
"Ja und? Der soll sich mal nicht so haben!", sagte Leon und zog Maria noch näher zu sich. "Du hast Ferien." Er küsste sie. "Und außerdem bist du krank."
"Ja...", meinte Maria, drehte sich wie zur Bestätigung zur Seite und hustete.
"Das interessiert ihn aber nicht." Sie räusperte sich.
"Du solltest gleich besser noch mal einen Tee trinken." Leon legte ihr eine Hand an die Stirn. "Sonst mach ich dir nachher noch einen."
"Och nee!", jammerte Maria. "Ich kann so langsam keinen Tee mehr sehen."
"Du hast aber Fieber. Da musst du viel trinken."
"Ich weiß." Maria nahm sich ein Taschentuch und putzte sich die Nase. "Das nervt mich alles nur."
"Ach echt?" Leon lachte. "Das merkt man gar nicht", sagte er, steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie sich an. "Hast du denn noch Halsschmerzen?"
"Ja.", antwortete Maria. "Und mein Ohr fühlt sich auch irgendwie komisch an. Als ob Watte drin wäre."
"Tut es denn auch weh?"
"Nein, gar nicht."
"Hmm."
"Was ist?"
"Könnte gut sein, dass du eine Mittelohrentzündung hast."
"Eine Mittelohrentzündung?"
"Ja... klingt für mich so", meinte Leon, nahm einen Zug von seiner Zigarette und stieß den Rauch gleichzeitig durch Nase und Mund wieder aus. "Damit gehst du besser mal zum Arzt." Leon zog Maria wieder näher zu sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. "Dann verschreibt der dir was dagegen." Er küsste sie erneut, diesmal auf den Mund, da wandte ich mich schließlich vom Fenster ab.
Was für ein Schmierentheater! Das hielt doch kein Mensch aus!

Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt