°○ Leon ○°
"Nun sei mal ein guter Gastgeber und biete deiner Freundin etwas zum Trinken an!", sagte Richard, nachdem die Tür hinter Eddie ins Schloss gefallen war und ließ mich los. "Ich habe jetzt noch etwas zu arbeiten. Deine Mutter soll mir Bescheid sagen, sobald das Essen auf dem Tisch steht. "Du bist natürlich eingeladen", fügte er noch an Maria gewandt hinzu, deutete dabei ein kleines Lächeln an und lief in Richtung Büro.
"Leon... hör zu... Das hatte-"
"Willst du einen Tee?", unterbrach ich Maria. Ich hatte jetzt keine Lust, mich mit dieser Scheiße auseinanderzusetzen, die Eddie da gerade abgezogen hatte. Um diesen Wichser würde ich mich schon noch kümmern, wenn es soweit war.
Maria nickte. "Ja, bitte", sagte sie und vermied es dabei, mich anzusehen.
"Dann komm!" Ich legte ihr einen Arm um die Schultern und führte sie zur Sitzecke in dem hinteren Bereich des Tankshops.
"Setz dich! Ich bin gleich wieder da", meinte ich und gab Maria einen Kuss, dann lief ich zur Theke, wo Manuel gerade damit beschäftigt war, in sein Handy zu gucken, etwas, wofür ich, würde Richard mich dabei erwischen, direkt Prügel kassieren würde.
"Und, wie lange wirst du ihn noch am Leben lassen?", fragte Manuel, ohne von seinem Handy aufzusehen.
"Wovon redest du?"
"Das weißt du ganz genau." Manuel grinste. "Das Milchgesicht hat ja ganz schön Mumm. Hätte ich dem gar nicht zugetraut."
"Arbeitest du eigentlich auch?", fragte ich ihn, ohne weiter auf seine Worte einzugehen, nahm eine Tasse aus dem Regal, hängte einen Kamillenteebeutel hinein und stellte sie unter den Heißwasserspender des Kaffeeautomaten. "Wenn Richard sieht, wie hier einer am Handy daddelt, kriegt der einen Anfall."
"Stört ihn doch sonst auch nicht, wenn keine Kundschaft da ist", meinte Manuel.
Ja, bei dir vielleicht nicht, dachte ich, sprach es jedoch nicht laut aus.
"Kannst du hier mal kurz übernehmen?"
"Wozu? Damit du zu Richard gehen und gemütlich Kaffee trinken kannst?"
"Ja, witzig", sagte Manuel. "Jetzt komm schon! Ich muss pinkeln."
"Dann verkneife es dir!", sagte ich und sah rüber zu Maria, die saß mit gesenktem Blick da, die Ellbogen auf dem Tisch abgestützt, den Kopf in beiden Händen liegend. "Ich hab Besuch."
"Na und? Die läuft dir schon nicht weg."
Ich schwieg, warf ein Stück Kandiszucker in den Tee und legte dann noch einen Löffel und einen in Folie eingepackten Keks auf die Untertasse.
"Komm, bitte! Nur fünf Minuten!" Manuel sah mich an.
Ich seufzte. "Na schön! Dann geh! Ich halte hier solange die Stellung."
"Leon, Leon!", rief Minchen, die kam gerade in diesem Moment durch die Wohnungstür gesprungen, rannte auf mich zu und wurde dabei noch im Lauf von Manuel gepackt und hochgehoben.
"Na, Kleine?" Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange. "Was bist du denn so schnell unterwegs?"
"Ich muss dir zeigen!", sagte Minchen und streckte Manuel ihre Hand entgegen, darin lag ein Überraschungsei. "Von Oma Gerda geschenkt."
"Wer ist Oma Gerda?", wollte Manuel wissen und setzte Minchen auf der Theke ab.
"Das ist die Nachbarin von gegenüber", erklärte ich und wandte mich dann an Minchen. "Bist du da wieder alleine rübergelaufen?"
Ich musterte sie streng, woraufhin meine Schwester gleich den Blick senkte.
"Das darfst du nicht! Wie oft soll ich dir das noch sagen?"
"Wollte besuchen."
"Du sollst nicht alleine über die Straße laufen. Das ist zu gefährlich", sagte ich. "Das nächste Mal fragst du mich, dann bring ich dich hin."
"Du bist aber weg, ganz oft", entgegnete Minchen und zeigte in Marias Richtung. "Mit Doofe da."
"Sie heißt Maria", meinte ich.
"Mir egal, wie Doofe heißt."
"Minchen!"
"Find ich so!", sagte Minchen, zog eine Grimasse und verschränkte die Arme vor der Brust. "Soll weggehen, blöde-"
"Jasmin! Es reicht!"
Manuel lachte. "Ach komm, lass sie doch!", meinte er und wuschelte Minchen mit der Hand durch ihre blonden Haare. "So ein bisschen Rumgezicke ist bei Mädchen doch ganz normal. Und im nächsten Moment sind sie dann wieder die besten Freundinnen. Oder, was meinst du, Kleine?"
"Wolltest du nicht aufs Klo?", fragte ich, schaute Manuel noch einen Moment lang finster an, stellte dann die Tasse Tee auf ein Tablett und lief damit zu Maria.
"Hier, dein Tee."
"Danke", sagte Maria ohne aufzublicken und fuhr darin fort mit ihren Fingern zu spielen.
Ich setzte mich zu ihr an den Tisch.
"Alles gut bei dir?"
"Ja... geht so."
"Was ist denn?"
"Nichts."
"Ja, das sieht man!"
Maria schwieg, nahm sich den Löffel und begann damit in ihrem Tee zu rühren.
Eine Weile sah ich ihr dabei zu, dann seufzte ich. "Hör zu! Wenn du dir noch Gedanken machst wegen der Sache vorhin, dann vergiss es einfach, okay? Ich kläre das mit Eddie."
"Du meinst, du verprügelst ihn", sagte Maria leise, die Augen immer noch auf den Tee vor ihr gerichtet. Und auf den Löffel, den sie darin kreisen ließ.
"Der fasst dich nie wieder an, wenn ich mit dem fertig bin."
"Und du bekommst wieder Ärger."
"Ja und? Ist mir doch egal."
"Mir aber nicht", meinte Maria. Sie sah mich an. "Ich will nicht, dass-"
"Leon!", rief Minchen, kam zu uns an den Tisch gerannt und kletterte auf meinen Schoß. "Hier, guck! Mein Ei!" Sie öffnete ihre Hand und wies mir mehrere rote und schwarze Plastikteile und dazu einen bunt bedruckten schmalen Zettel darin. "Kannst du Auto bauen?"
"Klar!", antwortete ich und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Aber du guckst dabei zu, ja? Dann kannst du das bald auch selber."
"Okay." Minchen legte mir die Plastikteile auf dem Tisch, woraufhin ich gleich damit beginnen wollte, sie zusammen zu bauen, als im selben Moment die Türklingel ertönte.
"Warte mal! Da muss ich eben hin." Ich gab Minchen einen Kuss auf die Stirn, hob sie von meinem Schoß herunter und lief in Richtung Theke. "Du kannst ja Maria fragen. Die baut dir das bestimmt auch gerne zusammen", rief ich ihr noch zu, als Minchen mich in der nächsten Sekunde bereits eingeholt und nach meiner Hand gegriffen hatte.
"Doofe soll nicht bauen! Du sollst machen."
"Ich muss jetzt erst mal an die Kasse", sagte ich und ging hinter die Theke, Minchen mit mir ziehend, die immer noch meine Hand festhielt.
"Guten Abend", begrüßte ich ein gestresst dreinblickendes Mädchen - nur wenige Jahre älter als ich - mit blauen Augen, dunkelbraunen schulterlangen Haaren und so viel Schminke im Gesicht, dass wohl selbst Julia daneben blass ausgesehen hätte.
"Einmal Säule zwei", meinte diese statt einer Begrüßung, legte eine Flasche Rotwein, eine Tüte Schokolinsen und eine Packung Kondome mit Erdbeergeschmack auf den Tresen. "Und eine Schachtel Lucky Pins."
"Alles klar", sagte ich, drehte mich um und griff nach der Packung mit den Zigaretten auf dem Regal.
"Will helfen!" Minchen griff wieder nach meiner Hand und zog daran.
"Nicht jetzt, Minchen!", meinte ich, befreite sanft meine Hand aus ihrem Griff und begann die Verkaufsartikel zu scannen, als schon die nächsten Kunden den Tankshop betraten; eine ältere Frau in einem weiten beigen Mantel mit langen gräulich-schwarzen Haaren und einem von tiefen Falten durchzogenem Gesicht, sowie ein Mann etwa Mitte Dreißig, ganz in schwarz gekleidet, mit Glatze und Brille.
"Doch, jetzt!", bettelte Minchen, packte nun meinen Arm und rüttelte daran. "Heb mich hoch, will gucken!"
"Nein!", sagte ich, nahm die Kondompackung und zog den Scanner drüber, wobei ich mir ein Grinsen verkniff bei der Vorstellung, wie ich das nächste Mal Kondome mit Geschmack dabeihätte, wenn Maria und ich wieder miteinander schlafen würden.
"Doch, bitte! Will helfen!"
"Das geht nicht."
"Doch geht das! Darf immer Manel helfen!", quengelte Minchen jetzt lauter. "Heb mich hoch! Bitte, Leon! Bitte, bitte, bitte!"
"Na schön!", gab ich schließlich nach, beugte mich zu meiner Schwester hinunter, nahm sie in den Arm und hob sie auf die Theke, bevor ich mich wieder der Kasse zuwandte, um dort noch die Tankfüllung zu den Verkaufsartikeln hinzuzufügen.
"Was tust du denn da?" Die Stimme des Mädchens klang hörbar empört.
Ich hob den Blick und sah Minchen, wie sie mit der Packung Kondome in der Hand vor meinem Gesicht hin und her wedelte, ein breites Grinsen im Gesicht.
"Was ist das?", fragte sie und kicherte, als kenne sie die Antwort schon.
"Verdammt Minchen! Leg das sofort wieder hin! Das gehört dir nicht!", schimpfte ich und riss ihr die Kondome schließlich aus der Hand, als sie nicht gehorchte, um sie dem Mädchen wieder auf die Theke zu legen. "Tut mir leid!"
Das Mädchen antwortete nicht, verdrehte stattdessen nur die Augen, zückte ihr Handy und warf einen prüfenden Blick darauf.
"Hier!", sagte ich, holte eine Münzenrolle mit Fünfzigcentstücken aus der Kasse und reichte sie Minchen. "Die kannst du mal auspacken."
Minchen nahm die Rolle entgegen und begann zufrieden mit den Fingern an dem Papier herum zu knibbeln.
"Das macht dann dreiundvierzig Euro siebenundneunzig."
"Macht ihr Sex?", fragte Minchen.
"Ähm, das...", begann ich und schluckte, während ich dem Mädchen einen weiteren entschuldigenden Blick zuwarf, welche diesen mit einem nun gänzlich entrüsteten Blick quittierte und dabei rot im Gesicht anlief, als der Mann hinter ihr ein hinter der Hand gedämpftes Grunzen ausstieß. "Also... sowas fragt man nicht!" Ich räusperte mich. "Jetzt geb mir mal die Münzen!"
Wenige Minuten später löste Manuel mich wieder an der Kasse ab und ich kehrte zur Sitzecke zurück, an der Maria saß, wobei meine Schwester sich abermals an meine Fersen heftete.
"Willst du noch etwas trinken?", fragte ich und deutete auf ihre inzwischen leere Tasse.
"Nein, danke", antwortete Maria mit rauer Stimme und hustete.
"Sicher?", hakte ich nach.
Maria nickte, da setzte ich mich, ließ Minchen wieder auf meinen Schoß klettern und fing an das Spielzeugauto aus dem Überraschungsei zusammen zu bauen.
"Mochtest du früher auch immer gerne Überraschungseier?" Ich schaute rüber zu Maria, die uns erneut wie unbeteiligt mit gesenktem Blick gegenübersaß. "Ich hab immer eins zum Geburtstag bekommen.", redete ich weiter, als sie nicht antwortete und verschwieg ihr dabei, dass ich außer einem Überraschungsei grundsätzlich nie etwas von meinen Eltern zum Geburtstag bekommen hatte, weswegen ich dann irgendwann im Grundschulalter begonnen hatte, mir - nicht nur an meinem Geburtstag - selber Geschenke aus den Läden zu besorgen, angefangen bei kleinen Dingen wie einem Päckchen Kaugummi hin zu größeren Dingen wie teuren Turnschuhen, Sonnenbrillen oder hochwertigen Kopfhörern aus dem HiFi-Laden.
"Ich hab die nie bekommen", meinte Maria.
"Doofe kriegen keine Eier!", sagte Minchen.
"Ich schenk dir bald mal eins", versprach ich, steckte das letzte Plastikteil an seinen Platz, rollte etwas mit dem fertigen roten Auto auf dem Tisch herum und gab es dann weiter an Minchen, die es freudig lächelnd in Empfang nahm, eine Weile in den Händen haltend betrachtete, es daraufhin auf dem Tisch abstellte und in Marias Richtung stupste, von wo es von ihr unbeachtet über die Tischkante herunter rollte und auf den Boden fiel.
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Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 1
Teen FictionDie Hölle, das sind immer die anderen. Braucht es dafür noch Beweise? Maria bekommt bereits mehr als genug davon. In ihrer Klasse wäre sie am liebsten unsichtbar, wird stattdessen immer mehr zur Zielscheibe der anderen. Solange, bis ihr jemand zur...