KAPITEL 10

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»Jedenfalls hat Joey es geschafft«, versuche ich, das Gespräch nach diesen Erinnerungen, die viel zu viel aufwühlen, auf etwas anderes zu lenken. Vielleicht auch nur, weil ich einfach nicht mehr darüber nachgrübeln will, was alles bei Patrick und mir schief läuft. »Ich werde ein paar Tage mit ihm laufen.«
»Nein, echt jetzt?«, grinst Nathalie. »Das Rezept muss er mir verraten. Vielleicht kommst du dann ja endlich mal mit mir zum Tanzen.«
»Wir wolln’s mal nicht gleich übertreiben«, lache ich. »Wahrscheinlich klappe ich eh nach zehn Kilometern zusammen, aber das ist ja dann Joeys Problem.«
»Aber ihr versteht euch gut, ja?«, fragt Nathalie natürlich nochmal nach. »Schlagt euch nicht die Köpfe ein, weil ihr da im Bulli aufeinander hockt?«

»Eigentlich hocke ja nur ich im Bulli«, grinse ich. »Aber nein, wir schlagen uns nicht die Köpfe ein. Es ist wirklich cool… er ist da für mich, wo es Patrick nicht ist, es tut gut mit ihm zu reden. Mit jemandem, der mich mal versteht. Und Joey ist echt süß, er versucht sein Bestes, um mich aufzumuntern und abzulenken.«
»Ach was, süß also?«, hakt Nathalie natürlich sofort nach. »Süße, kann es sein, dass Joey dir inzwischen nicht mehr ganz egal ist?«
»Was für ein Quatsch, Joey ist mein Schwager und Patricks Bruder!«, empöre ich mich prompt. »Natürlich ist Joey mir nicht egal, das war er noch nie. Keiner von Patricks Geschwistern ist mir egal. Aber ich würde doch niemals…« Ich stocke, denn ehrlicherweise gab es ja diese nahen Momente, die mir ein wenig Angst gemacht haben. Zwar will ich das alles damit erklären, dass ich einfach gerade wirklich in einem emotionalen Ausnahmezustand bin, aber prompt frage ich mich, ob das nicht eine zu einfache Erklärung ist? Bahnt sich gerade nach all den Jahren der engen Freundschaft zwischen Joey und mir etwas an, etwas, das wir niemals zulassen dürfen?

»Süße, Gefühle lassen sich nun einmal nicht steuern, und in dieser schwierigen Zeit, in der Patrick und du seid, sehnt man sich vielleicht auch besonders nach jemandem, der einen versteht«, beginnt Nathalie, aber ich winke sofort ab.
»Ich würde Patrick niemals betrügen!«, fahre ich sie an, auch ein wenig verletzt, dass Nathalie mir so etwas zutraut. Mit meinem Schwager! »Patrick und ich haben Probleme, ja, aber ich bin hier, um meinen Weg zu finden, und du denkst ernsthaft, ich würde etwas mit meinem Schwager anfangen?«
»So war das doch gar nicht gemeint, Süße«, beschwichtigt Nathalie sofort. »Ich weiß doch, dass du sowas nicht machen würdest. Ich meine nur, dass es gefährlich ist… ihr seid so eng, du und Joey, ihr verbringt jetzt noch mehr Zeit dort, du bist verzweifelt… ich will einfach nur nicht, dass du in deiner Verzweiflung etwas tust, was ihr beide hinterher bitterlich bereuen würdet.«

Und diese Sorge meiner besten Freundin finde ich schon wieder so süß, dass ich Nathalie am liebsten umarmen möchte und zuhause direkt vermisse. »Keine Sorge«, versuche ich ihr zu versichern, dabei geistern die nahen Momente mit Joey, die ich immer noch nicht einordnen kann, weiter durch meine Gedanken. »Ich bin unendlich dankbar, dass Joey für mich da ist, aber er vermisst Tanja schon, so wie ich es einschätze. Und außerdem gehören dazu dann immer noch zwei, nicht wahr?«
»Hast ja Recht«, stimmt Nathalie zu. »Jedenfalls wünsche ich dir von Herzen, dass du findest, was du suchst, und komm mir ja nicht nach Hause, bevor du dich nicht gefunden hast.«
Ich spüre den Kloß im Hals, verabschiede mich bedrückt. Gerade vermisse ich meine beste Freundin unendlich und doch bin ich dankbar, eine vertraute Stimme der Unterstützung gehört zu haben. Meine Familie weiß nicht halb so viel über Patricks und meine Probleme wie Nathalie, einfach, weil ich niemanden damit belasten will und immer noch hoffe, dass Patrick und ich es alleine hinbekommen. Aber ich bin umso dankbarer, Nathalie zu haben, der ich alles, wirklich alles anvertrauen könnte.

Joey scheint wie ich einigermaßen erleichtert zu sein, dass der Lagoalinda Inn zur Abwechslung mal nicht irgendwo im Nirgendwo liegt, sondern am Rand des Lake Junaluska am Fuß der Blue Ridge Mountains von North Carolina. Hier herrscht weitgehend normaler Tourismus, man sieht nicht nur die verrückten Leute mit Wanderschuhen und riesigen Rucksäcken, ich fühle mich einmal nicht wie eine Aussätzige. Dennoch graut mir ein wenig vor den folgenden Tagen, denn ab übermorgen muss ich mein Versprechen einlösen.
Joey ist verständlicherweise sichtlich platt, aber ich kann an diesem Abend nicht ganz ausmachen, ob er wirklich erschöpft ist oder ob ihm die Verletzung noch zu schaffen macht. Als ich ihm das Wundpflaster wechsle, stelle ich erleichtert fest, dass die Wunde verheilt.

Never Gonna Break Me DownWo Geschichten leben. Entdecke jetzt