Kapitel 1

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Wenn sie ganz ehrlich war, hatte sie sich das alles ganz anders vorgestellt, vielleicht auch erhofft, das große Wunder, endgültige Prozentwerte, die alle überrascht hätten, am meiste ihre Kritiker. Sie war erschöpft. Die letzten Wochen hatten ihr ganz schön die Kräfte und auch die Nerven geraubt. Die Wahl war jetzt zwar vorbei, doch der wichtigste Kampf, der um einen Platz in der kommenden Bundesregierung, der begann erst jetzt. Ganz dumpf hörte sie Musik durch ihre geschlossene Garderobentür dringen. Im Erdgeschoss feierte man das beste Ergebnis der Parteigeschichte, vielleicht auch ein bisschen sie, dass sie durchgehalten, sich nicht unterkriegen lassen hatte, trotz so viel Gegenwind. Müde fuhr sie sich mit ihren Handflächen übers Gesicht. Sie müsste mit da unten sein, anstoßen, tanzen, genießen, die nächsten Wochen würden noch ernst und anstrengend genug. Ein leises Klopfen riss sie aus ihren Gedanken und sie blickte zur Tür. „Na du?" Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, als er dahinter auftauchte und die Tür hinter sich wieder schloss. „Hey, sorry, dass ich einfach verschwunden bin. Ich brauchte einen Moment." Er winkte ab, reichte ihr stattdessen ein volles Glas Champagner, das sie ihm dankend abnahm. „Auf dich und das beste Ergebnis der Parteigeschichte." Sie wusste selbst am besten, dass alle sich mehr erhofft hatten, er wahrscheinlich am meisten, schließlich hatte er ihren Post mindestens genauso gewollt wie sie. Sie konnte nicht so recht einschätzen, ob er glaubte, dass mit ihm mehr drin gewesen wäre, ob er sie insgeheim ein wenig bemitleidete, doch sie schob die negativen Gedanken so gut es ging zur Seite und stieß stattdessen mit ihm an. Der Champagner war unangenehm trocken und sie verzog ein wenig das Gesicht. „Was hast du dir denn da andrehen lassen?" Fragte sie prompt und sah ihn grinsen. „Ich weiß schon, wieso ich sonst nur Bier trinken." Erwiderte er und schüttelte sich symbolisch von links nach rechts. „Dann muss ich mich wohl doch mal nach unten wagen. Den Fusel hier bekomme ich nicht runter."

Als sie unten ankamen, war die Sause, wie erwartet, in vollem Gange. Immer wieder begegneten ihr bekannte Gesichter, schüttelnde Hände, die ihr gratulierten oder feste Umarmungen, die Kraft schenken sollten. Sie kämpften sich nach und nach gemeinsam durch die ausgelassene Menge, bis zur Bar, wo er zwei Flaschen Bier organisierte und ihr eine davon reichte. „Also nochmal, auf dich." Die Flasche am Hals haltend stieß er sanft gegen ihre und brachte das braune Glas zum Klingen. Sie nahmen beide einen großen Schluck. „Ich würde dich ja jetzt fragen, ob du tanzen willst, aber das liegt mir leider so gar nicht." Sie grinste. „Wir müssen nicht tanzen. Es reicht mir, wenn du hier mit mir stehst und trinkst." Erwiderte sie und nahm demonstrativ einen weiteren Schluck Bier.

Stunden verstrichen, in denen sie das Gefühl hatte, sich nach langer Zeit wirklich nochmal locker machen zu können. Der Saal hatte sich inzwischen ordentlich geleert und sie spürte ein tiefes Gähnen in ihrer Kehle sitzen, das sie nur mit Mühe und Not zurückhalten konnte. Sie war müde, so richtig müde. Sie war bereits dabei ihr e Sachen zusammenzusuchen, Jacke, Tasche, als Robert wie aus dem nichts vor ihr auftauchte, nachdem eine ganze Weile verschwunden gewesen war. „Willst du schon los?" Sie nickte und schlüpfte erst mit dem einen und dann mit dem anderen Arm in ihren Mantel. "Nimmst du dir noch fünf Minuten? Ich hab noch was für dich." Fragend runzelte sie die Stirn. Geschenke? Sie war irritiert. „Fünf Minuten." Erwiderte sie und ließ sich darüber hinaus zu einem aufrichtigen Lächeln hinreißen. „Nicht hier, komm." Er unterdrückte den Impuls seine Hand nach ihr auszustrecken und lief stattdessen vorneweg. Auf dem Flur war es ruhig, dunkel. Sie gingen ein paar Schritte, weg von neugierigen Blicken, Journalist:innen. Plötzlich blieb er stehen und kramte in seiner Hosentasche, bis er schließlich einen kleinen Anhänger herauszog, den er ihr vor die Nase hielt. Es war ein Fotoanhänger, rechteckig, mit einem kleinen Bild darin, auf dem sie beide ziemlich gut getroffen waren. Er ließ ihn in ihre Hand gleiten und beobachtete, wie zu grinsen begann. „Ich weiß, das Ding ist nicht besonders schön und wahrscheinlich auch kein bisschen Nachhaltig, aber aus Holz ließ sich keiner auftreiben." Ihr Grinsen wurde breiter und sie fuhr mit ihrem Daumen darüber. „Er ist perfekt, danke. Und das meine ich ganz ernst." Sie blickte sanft zu ihm auf und zog ihn zu seiner Überraschung in eine feste Umarmung. Er spürte die Anspannung der vergangenen Wochen und Monate in ihrem Körper, gleichzeitig hatte er das Gefühl, dass diese Umarmung etwas war, was sie wirklich brauchte, Halt, den sie zuvor nicht eingefordert hatte. „Du weißt, dass ich stolz auf dich bin." Murmelte er ihr ins Ohr und drückte sie einmal fest an sich. „Ja, ja, ich glaub schon." Erwiderte sie, nachdem sie sich wieder von ihm gelöst hatte und blickte ihn neugierig an. „Ich habe dir das vorher nie gesagt, aber ich meine das ernst. Du hast so gekämpft, für dich, für uns als Partei, trotz des ganzen Gegenwindes, der Hasskommentare. Du hast dich nicht unterkriegen lassen, bis fokussiert geblieben. Du kannst so stolz auf dich sein Annalena." Ein erneutes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und sie fuhr ihm einmal über den Arm. „Danke Robert, wirklich." Sie spürte, wie eine weitere Welle er Müdigkeit auf sie zurollte und unterdrückte ein Gähnen. „Ich glaube ich mach mich so langsam mal auf den Weg ins Hotel. Ein paar Stunden Schlaf wären ganz gut, glaub ich." Er begann zu grinsen und nickte. „Das hast du dir verdient. Soll ich dich bringen?" Für einen Moment schaute sie ihn eindringlich an, biss sich auf die Lippe. „Musst du nicht. Sind ja nur ein paar Schritte." Er begann zu schmunzeln. „Würde ich aber gerne." 

Der Himmel über uns (Annalena Baerbock x Robert Habeck)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt