- ONE -
„Schau dir mal das Bild an." Jessy lehnte sich zu mir herüber und ich sah auf ihre Kamera, welches das Bild von Corf Castle zeigte, was wir uns heute angesehen hatten.
„Nicht schlecht", antwortete ich und biss in mein Brot, das ich mir kurz vor Aufbruch gestrichen hatte.
Wir waren wieder in Poole und saßen auf einer Bank direkt am Wasser. Die Kulisse war wunderschön und friedlich. Passanten spazierten umher, Schiffe schipperten auf dem Meer umher und die Sonne glänzte auf der Wasseroberfläche.
Ich öffnete meinen Zopf, den ich mir unterwegs gemacht hatte, und sah mich kurz nach unseren Klassen um. Dabei fing ich den Blick von einem dunkelhäutigen Kerl ein. Er trug eine moderne Sonnenbrille und trotz der Wärme eine Mütze.
Aus Reflex sah ich gleich wieder weg und widmete mich erneut meinem Brot.
Jessy sah sich immer noch begeistert ihre bisher geschossenen Bilder an. „Das Bild ist der Hammer."
Ich lachte. „Wir haben noch immer niemanden angesprochen. Ist dir das aufgefallen?"
Jessy packte ihre Kamera weg. „Los geht's. Such dir jemanden aus und wir gehen zusammen hin."
Ich dachte an den Kerl von eben, zögerte aber als ich über sein mögliches Alter nachdachte. Schätzen war nie meine Stärke gewesen, ich hatte nicht viel von ihm zu sehen bekommen, jedoch schätzte ich ihn nicht auf mein Alter.
„Nur noch mal so", sagte ich. „Es geht mir nur darum mit jemand Englischem Kontakt zu schließen."
„Ja", sagte sie, beinahe beiläufig. „Jetzt sag schon. Wir müssen echt an deiner Schüchternheit arbeiten. Und hier kennt dich niemand, das ist perfekt."
Sie hatte recht. Hier kannte mich niemand. Und nach sechs Tagen war ich wieder weg. Ich hatte nichts zu befürchten.
Möglichst unauffällig nickte ich in die Richtung, in der der Typ eben noch stand. Ich wusste nicht, ob er überhaupt noch dort stand, doch Jessy nickte und zog mich auf die Beine. Zielstrebig steuerte sie auf ihn zu, mich im Schlepptau. Er stand noch dort.
„Hallo", sprach sie ihn an.
„Hallo?", antwortete er, betont als Frage.
„Hi. Ich bin Jessy und das ist meine Freundin Anna. Wir sind hier für sechs Tage mit unserer Schulklassen und unserer Parallelklasse, da es unsere Abschlussfahrt ist", erklärte sie und deutete auf unsere Shirts, auf denen auf Deutsch unser Abschlussmotto und groß LONDON stand. Ich hatte nie verstanden, wieso auf dem Shirt LONDON stand und nicht ENGLAND. Immerhin waren wir nur einen Tag in London.
Er nahm seine Sonnenbrille ab, um unsere Pullis besser zu sehen. Genau in der Sekunde, in der ich sein ganzes Gesicht sah, seine Augen, wusste ich, was mich zu ihm gezogen hatte.
Anhand meines Gesichtsausdrucks, schien ihm aufzufallen, dass er seine Brille lieber nicht abgenommen hätte. Er war zwar vor knapp einem viertel Jahr aus der Band ausgestiegen, aber vergessen war er nicht. Was waren schon drei Monate im Vergleich zu fünf Jahren?
„Bitte, bitte. Seid leise", flehte er.
„Oh mein Gott", stieß ich aus. „Zayn. Was machst du hier in Dorset?"
Er seufzte auf. „Ich wollte aus London raus, um meine Ruhe zu haben und bin bei Verwandten." Nervös sah er sich um. „Hört zu. Wenn ihr Bilder oder Autogramme wollt, dann wäre ich euch nicht böse, wenn wir das lassen könnten. Ich bin raus aus der Band."
Ich war fassungslos. Über Alles. Dass er vor mir stand. Dass er mit mir sprach. Dass er schon wieder viel besser aussah als in den letzten Monaten als er noch in der Band war. Und über seinen letzten Satz. „Ich verstehe. Du möchtest mit One Direction also absolut nichts mehr am Hut haben?"
Wieder seufzte er. „Sag das nicht."
Ich runzelte die Stirn und warf Jessy einen verwirrten Blick zu, den sie erwiderte.
„Wieso rede ich eigentlich mit euch darüber?", fragte er, wohl eher zu sich selbst. „Versteht mich nicht falsch, One Direction war das Beste was mir je passiert ist. Fünf unvergessliche Jahre. Und 1D wird mir niemals egal sein. Aber anders konnte ich nicht weitermachen. Okay?"
Ich hatte das Gefühl, er hatte einen Haken hinter diesen Punkt gesetzt. „Ich will dir nichts das Gefühl verleihen, als würde ich dich besser kennen als jeder andere, denn das stimmt nicht, aber ich kann mir gut vorstellen, was deine Beweggründe waren. Ich will nur, dass du das weißt. Und das es auch genügend andere Fans gibt, die so denken." Ich widmete mich wieder Jessy: „Kommst, wir gehen."
Wir verabschiedeten uns beide höflich und stellten uns zu unseren anderen zwei Freundinnen, da unsere Bank belegt war.
„Krass", flüsterte ich.
„Oh ja"; flüsterte sie zurück.
„Das bleibt unter uns, oder? Das müssen wir ihm nicht auch noch zumuten", flüsterte ich wieder.
Zur Antwort nickte sie.
Unsere Lehrerin kam zu uns. „Macht euch fertig. Wir gehen gleich weiter."
Wir nickten alle, tranken noch einmal einen Schluck und verstauten unsere Wasserflaschen wieder in unseren Rucksäcken.
Meine Freundinnen und ich liefen an Zayn vorbei, um uns unserer Gruppe anzuschließen. Genau in dem Moment griff er nach meinem Arm und zog mich zu sich. Ich gab meinen Mädels Bescheid, weiter zu gehen.
„Wie lange seid ihr hier?", fragte er.
„Das ist unser erster Tag", überlegte ich laut. „Also noch fünf Tage." Sein Sinneswandel irritierte mich.
„Okay." Er hielt mich immer noch am Arm fest. „Und wo seid ihr untergebracht?"
„Wir sind bei Gastfamilien."
„Hier in Dorset?"
Ich nickte. „Wieso?"
„Gibst du mir die Adresse deiner Gastfamilie?"
Verblüfft sah ich ihn an. „Bitte?"
„Ich glaube ihr geht gleich weiter, also solltest du schnell handeln", warf er ein.
„Wieso willst du die Adresse? Ich kann dir doch nicht einfach die Adresse geben."
„Ich wüsste nicht, was dagegen spricht."
Jessy warf mir einen Blick zu, der mir verriet, dass ich mich beeilen sollte. Immer mehr unserer zwei Klassen kamen nun zum Treffpunkt. „Okay."
Er drückte mir einen Stift und einen Fetzen Papier in die Hand. Ich sah in kurz verwirrt an, kritzelte dann aber schnell die Adresse drauf.
„Wenn du einmal bekannt warst, gewöhnst du dich daran so etwas immer dabei zu haben", erklärte er mir, was mir einleuchtete.
Ich gab ihm die Sachen zurück, sah ihn noch einmal an, verabschiedete mich hastig und rannte dann zu meiner Gruppe.