III - Schatten

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Jahr 351 nach dem Götterkrieg, Sommer

Merun, Hauptstadt des Kaiserreichs


Von seinem Aussichtspunkt auf dem Dach des Wachturms konnte er das ganze Marktviertel überblicken. Obwohl es mitten in der Nacht war, waren die breiten Straßen noch hell erleuchtet und belebt. Laternen hingen von überstehenden Hausdächern und Ständen und vertrieben die Dunkelheit. Es wurden Angebote gerufen, es wurde gefeilscht, es wurde gestritten, es wurde gelacht und Musik gespielt. Jemand wich einem Karren aus und stolperte in eine Kiste voll Rüben und verteilte diese auf dem Boden. Trotz der Tage, die er jetzt schon in der Kaiserstadt verbrachte, war es ihm noch immer ein Rätsel, wie niemand in dieser Stadt jemals zu schlafen schien. Mit so regem Treiben dort unten würde er seinen Auftrag nicht erfüllen können. Er hoffte, dass die Zielperson bald in eine der dunkleren Seitenstraßen einbog. Das barg zwar die Gefahr, sie zu verlieren, doch die Schatten würden auch ihm Schutz bieten.

Der Avius schwang sich vom Dach des Turms. Der sanfte Wind unter seinen Schwingen trug ihn von Dach zu Dach. Fliegen konnte seine Art schon lange nicht mehr, aber es genügte, um auf dem Wind zu reiten. Ein Haus nahe der Hauptstraße erkor er zu seinem neuen Aussichtspunkt. Seine Zielperson schob sich unter ihm durch die Menschenmenge. Die immer-wache Stadt forderte selbst bei Nacht, dass man Mühe aufgebracht, sein Ziel zügig zu erreichen. Die Frau vertrieb einen Bettler, der ihr schon einige Zeit gefolgt war. Erst als sie ihn anbellte, dass er verschwinden solle, machte er kehrt und verfluchte sie. Falls sie versuchte, nicht aufzufallen, war sie ausgesprochen schlecht darin. Nicht, dass ein Ork in Merun unbemerkt geblieben wäre. Sie verirrten sich selten in Menschenstädte so weit weit im Osten.

Zwei Straßen weiter stieß sie dann mit einem voll beladenen Mann zusammen. Er fluchte laut. Und dann dämmerte es dem Avius: Sie war schlauer, als er angenommen hatte. Sie wollte auffallen. Es war weit schwieriger, jemanden zu ermorden, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog, auf den alle starrten. Und sollte das nicht ausreichen, führte sie noch immer zwei Schwerter mit sich. Darüber allerdings machte sich der Avius weniger Sorgen. Wenn alles gut lief, würden ihr diese auch nichts nützen. Er war vorbereitet.

Er sprang ein Haus weiter, um sie nicht zu verlieren. Sie wusste, dass sie verfolgt wurde und es wurde schwieriger, ihr zu folgen. Sie mied die Schatten, blieb auf den breiten Straßen, sprach oder stritt gelegentlich mit einem Händler.

Dann also Plan B.

Die Nadel blitzte im warmen Licht der Laternen kurz auf, bevor sie ihr Ziel fand.

Ihre Melodie muss vergehen. Und es würde ihn reich machen. Und es würde seiner Schwester die Freiheit schenken.

Die Frau fasste sich in den Nacken, wo der Dorn in ihrem Fleisch stak und verzog das Gesicht. Mit jedem Schlag würde ihr Herz das Gift durch ihren Körper pumpen. Weiter und weiter. Anfangs würde sie es nicht spüren; es dauerte einige Momente. Und dann war es zu spät.

Er strich die blau-grünen Federn auf seinem Kopf glatt und beobachtete sie weiter, um sicherzugehen, dass sein Auftrag erfüllt war. Doch die Ork ging einfach weiter, als wäre nichts geschehen. Hatte er sich verschätzt? Unmöglich. Selbst bei ihrer Größe und Statur musste die Dosis ausreichen.

Sie bog in eine breitere Seitenstraße. Hier gab es weniger Gedränge, keine feilschenden Händler, keine Stände und so kam sie deutlich schneller voran. Er beeilte sich, ihr zu folgen. Von Hausdach zu Hausdach. Er glitt ein Stück über den Wind; querte die Straße als ein Schatten. Kletterte eine Wand aus grobem Stein hinauf. Duckte sich in die Dunkelheit hoch über den Menschen. Er sah ein paar Tauben und schlug einen anderen Weg ein. Würde er sie wecken, wüsste sie, wo er war. Verdammt, warum fiel sie nicht um?

Necrosis (Weltentod I) [Deutsch]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt