Jahr 351 nach dem Götterkrieg, Sommer
Merun, Hauptstadt des Kaiserreichs
Als sie erwachte und aufsetzte, drehte sich die Welt vor ihr. Verflucht... Bei Tarnaths Eiern, was hat er mir da wieder gegeben?
Giræsea setzte sich mühsam auf strich sich ihre Haare aus dem Gesicht. Das hatte sie davon, dass niemand ihren Sieg mit ihr feiern wollte. Es war ein Sieg gewesen. Sie wussten jetzt, dass der Kurr bereit war, sie bis hier her zu verfolgen und dass ihre Söldner wirklich nicht die klügsten waren. Und jetzt haben sie einen weniger von ihnen. Sie grinste in sich hinein.
Wenn alles nach Plan verlief, würden sie noch vor dem Tag der Götter abreisen. Sie verstand nicht, was so viele Menschen nach Merun zog. Es mochte diese Tage die größte Stadt der bekannten Welt sein. Wie die Ameisen bauten die Menschen, unterstützt von den Zwergen hier ihre Burg in die Höhe und in die Tiefe. Natürlich ging es nur für die Wohlhabenden nach oben, ihre Herberge, der Gebrochene Speer, dagegen befand sich in einer der gewaltigen Höhlen unter der Stadt. Hierher zog es all jene, die nicht an der Oberfläche gesehen werden sollten. Sie hatte diesen Fehler begangen, sie war gesehen worden. Von dem falschen Paar Augen.
Sie strich sich erneut eine Strähne aus dem Gesicht, die nicht an ihrem Platz bleiben wollte. Mit einem Seufzer griff sie hinter ihren Kopf und suchte das Ende ihres schulterlangen Zopfes. Thorgest hatte ihn sauber geflochten, aber jetzt begann er sich aufzulösen. Sie fand das Lederband und zog daran, um die Schleife zu lösen.
In der Stille und dem Frieden ihres Zimmers begann sie Windung für Windung ihr Haar zu öffnen. Erst den Zopf, dann das Muster über ihren Schädel. Hölzerne und Metallene Perlen sowie das gelbe Band, dass ihr Freund mit eingeflochten hatte, sammelte sie auf dem Tisch neben ihrem Bett.
Es war ein Moment, der nichts mit ihrer Suche zu tun hatte, nichts mit ihrer Flucht, nichts damit, zu überleben, ein Moment für sie.
Ein Moment ohne das Gedränge der Menschenmengen auf den Straßen oder Märkten, ohne den Lärm und ohne fürchten zu müssen, jemand würde vor ihr wegrennen.
Sie Strich sich die Haare auf die linke Seite, stand auf und trat an die Waschschüssel heran. Sie war froh, dass sie sich zumindest ein paar Annehmlichkeiten leisten konnten. Was wäre ihr Stamm enttäuscht, wenn sie wüssten, wie sehr sie es genoss, dachte sie, als sie sich das Gesicht wusch.
Sie war zu lange in den Städten im Himmel gewesen, hatte ein gutes Leben geführt. Und selbst Merun war ihr in all seinem Chaos lieber als die endlose Leere des Sandmeers. Bereute sie es gegangen zu sein? Sie im Dunkeln gelassen zu haben? Vielleicht. Aber es war besser so. Thorgest hatte es ihr immer wieder gesagt: "Giræsea, was hättest du getan? Sie hätten dir nicht geglaubt. So bist du frei. So kannst du ihnen helfen."
Wie sie hoffte, dass er recht hatte. Vor fünf Wintern hatte es alles begonnen. Die ersten Ahnungen. Die ersten Träume. Sie gaben ihr eine Richtung, jedoch kein Ziel. Und nachdem nun gut die Hälfte des Eisenwaldes gefallen war und es die ersten Sichtungen im Sandmeer gab, schwand ihre Hoffnung jedoch.
Sie besah sie ihr Ebenbild in dem milchigen Spiegel vor ihr an der Wand. Ein grimmiges Gesicht starrte ihr entgegen. Aschgraue Haut, mit in diesem Moment noch sehr müden, aber entschlossenen Zügen. Zwei spitze Ohren, das linke ragte etwas zwischen schwarzen Haaren hervor.
Eine weiße Linie zog sich von ihrer Unterlippe über ihr Kinn hinunter zu ihrem Hals, wo sie spitz zulief. Ein Dorn unter ihren Augen, der von dort über ihre Wangen lief, begleitet von weißen Punkten. Die Tätowierungen waren eine Erinnerung an ihre Heimat. Gestochen, kurz nachdem sie den Entschluss gefasst hatte, diese zu verlassen.
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Necrosis (Weltentod I) [Deutsch]
FantasyDie Welt liegt im Sterben. Die Bäume verdorren, der Boden wird unfruchtbar und die Toten weigern sich, tot zu bleiben. Wie eine Krankheit breitet es sich vom Westen her aus. Aus dem Eisenwald heraus und über die zentralen Ebenen und die Flusslande. ...