Bin ich ein schlechter Mensch?

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„Es stimmt nicht, dass Kaffee den Körper dehydriert. Es gab einen Beobachtungszeitraum von 15 Jahren, es gab keine Änderungen der Nierenfiltrationsrate der Probanden, was man als positiv bewerten konnte. Kaffee trocknet den Körper also nicht aus."

Ginger sah unruhig hin und her und strich mit dem Daumen immer wieder unter den Henkel ihrer Tasse. Die runde, glatte Biegung war weich und beruhigte sie.
Sie nahm wahr, wie Claire seufzte. Ein leichtes Lächeln zierte ihre Lippen. Ginger wusste, es war kein echtes Lächeln. Es war ein Verlegenheitslächeln. War es Claire peinlich, mit ihr hier im Kaffee des Krankenhauses zu sitzen?

„Ginger, ich glaube, Melendez ging es nicht darum, dass der Kaffee deinen Körper austrocknet. Es ist für den menschlichen Körper einfach nicht gut, wenn er zu viel Koffein in sich aufnimmt. Du könntest Migräne oder gesteigerten Harndrang bekommen."

"Ich weiß, und bei zu viel Koffein tritt Inkontinenz bei Männern auf. Trotzdem trinkt Neil genauso viel Kaffee, wie ich."

Ginger zog ihre Schultern zurück und sah Claire für genau zwei Sekunden in die Augen, ehe sie wieder hinabsah. Sie konnte es einfach nicht. Es fühlte sich unangenehm an, Menschen in die Augen zu gucken. Außerdem konnte sie sich dann nicht konzentrieren.
Claires Haarsträhnen und ihr Muttermal waren viel angenehmere Anhaltspunkte für die junge Dame mit dem kupferroten Haar.

„Franz Kafka hat auch gesagt: „Kaffee dehydriert den Körper nicht". Und er hatte Recht laut der Hypothese der Wissenschaft."

„Aber der Kaffee wird doch nicht der Grund für eure Beziehungsprobleme sein, oder Ginger?"

Ginger zuckte zusammen. Aber nicht wegen der Frage. Einer Kellnerin hinter ihr war das Geschirr herunter gefallen. Ginger legte ihren Kopf schief. Das tat sie immer, wenn ihr etwas unangenehm war. Dadurch dehnte sie ihren Nacken abrupt und konnte so dem unangenehmen Gefühl entgegenwirken, welches sich immer dann in ihrem Rücken ausbreitete, wenn die ungefilterten Geräusche in sie herein prasselten wie kleine Messerstiche.
Das konnten auch nur kleine Geräusche sein.
Wenn Neil und sie am Tisch saßen und zusammen aßen, Ginger konnte die Essgeräusche von Neil nicht ertragen. Oder wenn sie zusammen im Bett lagen und lasen, Ginger konnte es nicht ertragen, wenn Neil mit seinen Fingern über seine Hand strich.
Oder auch, wenn die Spülmaschine fertig war und nicht Ginger sondern Neil die Spülmaschine ausräumte. Neil konnte noch so leise dabei sein, Ginger hörte es und es war ihr unangenehm - denn Ginger war Asperger Autistin.
Das Asperger-Syndrom war nur eine leichte Form von Autismus. Ginger war an der Grenze zu hochbegabt, hatte künstlerische Fähigkeiten, konnte wahnsinnig gut mit Tieren umgehen und hatte Probleme in der Kommunikation und der zwischenmenschlichen Interaktion mit anderen Menschen. Ginger war aber auch lernfähig, hatte Strategien entwickelt, sich in der neurotypischen Welt zurechtzufinden und war damit sehr gut in der Lage, ein selbstständiges Leben zu führen.
Sie hatte Glück. Denn hätte sie eine stärkere Form des Autismus, hätte sie dies vielleicht nicht gekonnt. Und sie hätte Neil vielleicht niemals kennengelernt.
Sie musste Lächeln.
Auch, wenn es schwierig war, sie liebte Neil. Aber sie machte sich schon die ganze Zeit Vorwürfe. Denn Neil war mal wieder sauer auf sie. Und wieder einmal rätselte Ginger, warum.

„Ich weiß nicht, warum Neil sauer ist.", sagte Ginger ehrlich und biss sich auf die Unterlippe. „Ich bin sehr traurig. Ich will Neil nicht sauer machen. Vielleicht habe ich ihm weh getan und jetzt muss er leiden wegen mir. Das will ich nicht. Das macht mich auch traurig, glaube ich."

„Das verstehe ich, Ginger. Aber das ist normal. Man hat immer mal Streit in einer Beziehung. Wichtig ist nur, Streitigkeiten anzugehen und aus der Welt zu schaffen. Das stärkt eine Beziehung und macht sie inniger, als zuvor."

Aufmunternd lächelte Claire sie an.

„Du bist wunderschön", kam es von Ginger, die oft etwas themenirrelevantes in ein Gespräch warf. Einfach, weil es ihr gerade in den Kopf kam und sie gerne das aussprach, was sie gerade dachte. Natürlich nur, wenn es nett war.
Das hatte Ginger auch gelernt.

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