Perspektiven

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„Was würdest du machen, wenn ich dir morgen sagen würde, dass ich schwanger bin?“

„Dann wüsste ich, dass das Kind nicht von mir ist.“

Neil stieg lachend aus dem Wagen. Den ganzen Hinweg zur Arbeit hatten sie miteinander geschnackt. Morgens war Ginger immer viel gesprächiger als Abends. Das lag daran, dass Ginger als Autistin nach dem Aufstehen noch die nötige Energie hatte, um mit allen Sinneseindrücken fertig zu werden.
Doch sobald sie aus der Haustür hinaustrat, prasselte alles auf sie ein. Gerüche, Geräusche, unkontrollierbare schnelle Bewegungen und Berührungen.
Am Abend war der Rotschopf dann so ausgelaugt, dass der Schlaf dann nicht lange auf sich warten ließ.
Kurz - neurotypisch gesagt - war Ginger ein Morgenmensch.

Was man von Neil nicht gerade behaupten konnte. Aber er arrangierte sich damit und irgendwie fand er es auch recht niedlich, wenn Ginger ihm Kaffee ans Bett brachte und mit heller Begeisterung und vollem Elan von ihren Gedanken erzählte. Das machte gute Laune.
Der Oberarzt wartete mit verschränkten Armen lässig lehnend am Auto, bis seine Freundin sich aus dem Wagen geschält hatte.
Dann nahm er ihre Hand in seine, lächelte sie verschmitzt an und zusammen betraten sie das St. Bonaventure Hospital im kalifornischen San José.

„Ok, das ist plausibel. Ich habe mich ungenau ausgedrückt. Nochmal. Was wäre, wenn wir heute Abend Sex hätten und ich dir in ein paar Wochen sagen würde, dass ich von dir schwanger bin?“

"Heeeeey, ungenau gestellte Fragen sehen dir garnicht ähnlich. Wer ist denn von uns nochmal der Autist von uns in der Beziehung?“

„Vielleicht färbt sie auf dich ab. Dann wäre das die erste Studie, die beweisen würde, dass diese Krankheit ansteckend ist. Ich glaube, dafür bekäme ich eine Auszeichnung.“

Alex Park und Shaun Murphy kamen dem harmonierendem Pärchen ebenfalls gut gelaunt entgegen. Neil hob seine Augenbraue und lächelte seinen Assistenzärzten zu.

"Autismus ist aber nicht ansteckend. Das geht gar nicht", lachte Shaun, der sonst nie eine Miene verzog.

Alle sahen ihn mit großen Augen an. Sogar Ginger. Sie hatte Shaun auch noch nie lachen sehen.

„Guten Morgen, Shaun“, begrüßte Neil den jüngeren der beiden Ärzte.

„Guten Morgen. Wir sollen während der Arbeit nicht über Sex reden“, sagte Shaun trocken wie eh und je, spielte an seinen Fingern und sah verloren in der Gegend herum.

Neil ging gar nicht erst darauf ein, sondern verabschiedete sich mit einem Kuss von Ginger.

„Hasta luego mi amore.“

Das war spanisch für „Bis später mein Schatz“.

Nach dem Fall der Quarantäne durch das tropische Virus über Weihnachten war die Situation auf Hochspannung. Das Gesundheitsamt ermittelte immer noch und die Mitarbeiter wurden genauestens unter die Lupe genommen.

Dr. Lim hatte heute einen besonders interessanten Fall. Eine autistische Patientin.
Ginger, die auf dem Weg ins Kaffee war, um dort zu jobben, musste stoppen, als sich ihr Dr. Reznick in den Weg stellte.

„Ginger, hast du mal kurz Zeit?“

Ginger strengte sich an, Morgan in die Augen zu sehen, wippte aber immer wieder von einem Bein auf das andere.

„Ich muss ins Kaffee. Meine Schicht beginnt in 30 Minuten und ich brauche mindestens zwanzig Minuten um mich vorzubereiten. Ich will Kommunikation mit Menschen lernen."

Den letzten Satz sagte sie stolz und strahlte über das ganze Gesicht.

„Ja schon klar, aber das kann warten. Dr. Lim verlangt nach dir.“

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