Sunflower, Lily And a Candle

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(Adventskalender 2021, Türchen 22)

„Nein! ... Nein, oh Gott... nein!"

Immer wieder murmelt Harry diese Worte. Ich bin erst vor wenigen Minuten davon wachgeworden und beobachte nun meinen Freund. Es kommt nicht jede Nacht vor, aber oft genug. Ich weiß, dass er sich versucht einzureden, dass ich es nicht mitbekommen würde, aber inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es so klug ist, dabei mitzuspielen. Harry schwitzt, er hat die Decke weggetreten und seine Augen zucken unter den Lidern unruhig hin und her. Ich seufze und schalte das Licht der Nachttischlampe an, die einen warmen, aber zu hellen Schein ins Schlafzimmer wirft. Harry wacht davon nicht auf. Ich stehe auf und laufe in die Küche. Schnell habe ich ein kühles Glas Wasser und ein kleines, feuchtes Handtuch geholt. Als ich das Schlafzimmer wieder betrete, klammert sich Harry an die Bettwäsche. Plötzlich schreit er.

Mir wird eiskalt und eine Gänsehaut überzieht mich, als ich zu ihm eile, die Sachen auf seinen kleinen Nachttisch stelle und sanft seine Hände in meine nehme. Albträume hin oder her, das hier geht zu weit. „Harry... Cupcake, wach auf.", versuche ich ihn mit ruhiger Stimme zu wecken. Er schreit wieder. „Harry, wach auf! Es ist nur ein Traum!", sage ich lauter und streiche ihm über die Wangen. „Harry, mach die Augen auf!" Ich greife nach dem Handtuch und wische damit über seine Stirn. Nur ein paar Sekunden später schlägt er seine Augen auf und sitzt fast augenblicklich aufrecht. Er atmet schnell und flach und er braucht offenbar einen Augenblick, um zu verstehen, was gerade geschehen ist.

„Louis..." – „Ich bin hier, es war nur ein Traum.", versichere ich ihm besorgt und wische ihm vorsichtig über die Stirn, die Wangen und dann seinen Hals. Er ist völlig verschwitzt und er zittert. „Ein Traum...", murmelt er neben sich stehend und sieht sich um. Ich reiche ihm das Glas Wasser. „Trink erst einmal einen Schluck." Er nickt leicht und nimmt mir das Glas ab. Es rutscht ihm fast durch die Finger, wäre es wohl auch, wenn ich es nicht noch festgehalten hätte. „Fuck.", höre ich ihn leise sagen und fasse einen Entschluss. Das kann so nicht weiter gehen. Ich werde garantiert nicht weiterhin so tun, als würde ich seine Albträume nicht mitbekommen.

„Komm.", ich stehe auf und reiche ihm meine Hand. Mit wackligen Beinen lässt er sich von mir ins Badezimmer führen. „Mir ist kalt.", sagt er leise. Ich stelle die Heizung an und drehe das Rad bis zum Anschlag hoch. „Setz dich.", bitte ich ihn. Harry lässt sich auf den weichen Badematten nieder, die er vor einiger Zeit gekauft hat und schlingt seine Arme unbeholfen um seinen Körper. „Ich bin sofort wieder da.", verspreche ich, hetze ins Schlafzimmer und hole frische Kleidung; eine seiner Shorts und ein zu großes Shirt von mir (was ich mir eventuell nur gekauft habe, um ihn darin zu sehen). Harry sitzt unverändert auf der Badematte, als ich wieder zu ihm komme. Ich lege die Sachen auf dem Klodeckel ab, nehme mir einen Waschlappen und warte darauf, dass das Wasser warm wird. Es ist etwa halb vier in der Nacht. Meistens ist es diese Uhrzeit, wenn er einen Albtraum hat, aber es war schon lange nicht mehr so schlimm.

„Okay?", frage ich ihn vorsichtshalber und zeige ihm den feuchten Waschlappen. Er nickt stumm. Ich beginne bei seinen Schultern, wasche danach seine Arme, seinen Rücken und seine Beine. Das Wasser ist warm, aber nicht heiß und langsam, aber sicher entspannt er sich immer mehr. Stumm lässt er sich von mir säubern und lässt zu, dass ich ihn dazu ausziehe. Ihm ist genauso bewusst, wie mir, dass es an der Zeit ist, darüber zu reden, das ist mir klar, aber vorher möchte ich ihm den Albtraum von der Haut waschen. Sanft trockne ich ihn ab, die Wunden seiner Haut sind inzwischen verheilt, aber vorsichtig bin ich nach wie vor. Harry lässt von mir anziehen und wieder ins Bett bringen. „Ich hole dir noch ein Wasser.", beschließe ich, gehe erneut in die Küche und schnappe mir aus einem der Schränke ein Stück Traubenzucker dazu. Schnell mache ich die Heizung im Badezimmer wieder aus und kehre nun endlich zu meinem Freund zurück. Harry hat sich die Decke bis zum Hals gezogen.

„Kannst... kommst du her?", fragt er zögerlich und wie könnte ich ihm diese Bitte abschlagen. „Hier. Iss das." Bevor ich ihn in meine Arme ziehe, gebe ich ihm den Traubenzucker und er trinkt noch etwas kühles Wasser. Harry drückt sich an mich und seufzt leise.

„Besser?" – „Mhm... danke, Igel." – „Immer, das weißt du doch." Er drückt sich stärker an mich und ich umarme ihn einen Moment lang einfach nur.

„Magst du mir sagen, was du geträumt hast?" – „Wie immer.", antwortet er nur schulterzuckend und drückt seine Nase gegen meine Brust. „Der Brand also.", schlussfolgere ich und er nickt angespannt. „Es war schlimmer als sonst.", stelle ich fest. Wieder nickt er. „Wie kommt es? Du hattest die ganze letzte Woche keinen Albtraum." – „Das hast du mitbekommen?", fragt er und sieht mich überrascht an. „Ich bekomme es immer mit, Cupcake." – „Immer?!" Perplex blickt er mich an und hat sich etwas aufgesetzt. „Ja, immer." – „Das... aber das ist fast drei bis vier Mal in der Woche." – „Ich weiß, aber normalerweise schreist du dabei nicht." – „Ich habe geschrien?" – „Und wie.", antworte ich und er schluckt.

„Es war... es war wieder so real, weißt du, so wie die Albträume, die ich am Anfang hatte. Ich bin wieder in der Backstube, rieche erst den Qualm und sehe dann helle Flammen. Ich kann nicht aus der Tür raus und versuche sie zu löschen, aber sie werden immer großer und... scheiße, ich komme nicht einmal mehr zum Fenster, alles brennt und ich merke, wie meine Kleidung Feuer fängt, aber niemand ist da. Der Weg ist blockiert und es wird heißer und -", Harry bricht ab und ich ziehe ihn enger an mich heran. „Du lebst, du bist Zuhause und dir geht es wieder gut, Cupcake. Es kann dir nicht passieren.", verspreche ich und drücke einen Kuss auf seine Locken. Er nickt, aber ich weiß, dass seine Wangen wieder feucht sind.

„Hast du mit Dr. Carter darüber gesprochen?", möchte ich wissen und er seufzt. „Ja, sie weißt es. Sie denkt, es hat mit der Weihnachtszeit zu tun." – „Mit der Weihnachtszeit?", frage ich verwundert. „Aber du liebst Weihnachten." – „Tue ich auch, aber überall... es sind überall Kerzen und Feuer und das macht es wieder schlimmer.", erklärt er mir. Wenn Harry eine Kerze auch nur riecht, bekommt er leider immer noch Panik. Es ist nicht mehr so schlimm, wie früher, aber inzwischen haben wir nicht mehr ein einziges Teelicht Zuhause. Scheiße, ich hätte daran denken können, dass gerade im Augenblick fast überall Kerzen herumstehen!

„Oh Cupcake.", sage ich leise und er dreht sich so, dass er mich ansehen kann. „Wir können nicht einmal einen richtigen Weihnachtsbaum aufstellen.", sagt er leise und ich sehe Tränen in seinen Augen glitzern. „Ich will keine Lichterkette, ich will Kerzen. Rote Kerzen." – „Ich weiß, mein Schatz." Ich kann kaum in Worte fassen, wie leid es mir tut. Wir haben noch keinen Baum, aber als wir waren vor einigen Tagen Christbaumschmuck kaufen, weil wir zumindest einen kleinen Weihnachtsbaum haben möchten und ich hätte seinen Blick nicht übersehen können, als er bei den Kerzenhalterungen stand. „Wir werden ein wunderschönes Weihnachtsfest feiern, glaub mir.", verspreche ich ihm und angle nach meinem Handy.

„Was wird das?" – „Wir schauen jetzt, ob wir elektrische Kerzen für den Weihnachtsbaum finden. Die riechen nicht und vielleicht funktioniert es ja so." – „Mhm, ich weiß nicht." – „Wir versuchen es, Haz.", ermutige ich ihn und wenig später habe ich im Internet welche gefunden. „Die gibt es in Rot!", stellt Harry fest und ich bemerke, dass er lächelt. „Dann gehören sie jetzt uns.", antworte ich ihm und bestelle sie.

„Ich liebe dich, Igel, sehr.", sagt er kurz darauf und mustert mich. „Und ich liebe dich, Cupcake.", antworte ich ihm und küsse ihn sanft.

Die Kerzen kommen wenige Tage später an und auch, wenn Harry erst skeptisch war, funktioniert es tatsächlich. Einen Abend später bereitet er Abendessen vor; soweit nichts Ungewöhnliches, als ich aber in die Küche komme, ist der Tisch für ein Dinner gedeckt und eine der Kerzen steht in der Mitte. „Ein Candle-Light-Dinner?", frage ich überrascht und er nickt. „Es triggert mich gar nicht und das hatten wir schon so lange nicht mehr.", antwortet er mir glücklich, bevor er auf mich zukommt und mich küsst.

„Danke, Louis, dass du so geduldig mit mir bist." – „Oh, Harry, das mache ich gerne, das weißt du doch.", antworte ich ihm lächelnd und kann nicht anders, als ihn erneut zu küssen.

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Love, L

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