Kapitel 4-1

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Namis Körper fühlte sich taub an. Sie konnte die Glieder nicht bewegen. Als sie ihre Augen öffnete, sah sie nur ein rötliches Schimmern, als blicke sie in einen verschwommenen Sonnenuntergang. Ein Wispern, aber sie verstand die Laute nicht. Sie wollte den Arm heben, um ihr Ohr zu befühlen, aber ihr fehlte die nötige Kontrolle darüber. Müdigkeit ergriff sie, drückte ihre Augenlider nieder. Sie wollte sich wehren, um das Bewusstsein kämpfen, aber es ging nicht.

Ein Gefühl riss sie in ihren Bann, nahm all ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Eine Mischung aus Trauer und Verärgerung überspülte ihren Geist. Der Prozess erinnerte sie an den Einfluss eines Psionikers. Als projizierte jemand Dinge in ihren Kopf. Aber es fühlte sich vertrauenswürdig an, nicht korrumpierend, eher als flüsterte ein Freund etwas in ihr Ohr.

Sie schloss die Augen und ergab sich dem Strom aus Eindrücken. Eine Flut an Bildern überströmte ihre Wahrnehmung. Als spiele man einen Film viel zu schnell ab, sodass sie nur einzelne Eindrücke wahrnahm. Der Strom verlangsamte sich, wurde schärfer. Nami befand sich in einer Welt, die sie an Bilder von der Erde erinnerten. Die Vegetation war ähnlich eines dichten Dschungels. Die Luft flimmerte vor Hitze, die durch das weite Blätterdach gedämpft wurde. Wie ferngesteuert wanderte Nami durch das üppige Grün, vorbei an gewaltigen Bäumen und blühenden Gesträuchen. Auf ihrem Weg kreuzte sie vierbeinige Kreaturen, ähnlich übergroßer Salamander. Sie erinnerte sich, dass Gebeine derartiger Kreaturen gefunden worden waren. Man hatte sie für eine Unterart der Lilim gehalten. Jedoch zeugte deren bräunliche Farbe davon, dass sie keine Photosynthese betrieben, so wie es die Lilim taten.

Nami erreichte eine weite Lichtung. Dort sonnten sich gerade einige Vorgänger der heutigen Lilim in dem gleißenden Sonnenlicht. Sie wirkten weit weniger bedrohlich als die Gestalten, denen sie bisher begegnet war. Daraus bestätigte sich wiederum die Vermutung, dass diese Wesen zu ungewöhnlich schneller Mutationen fähig waren. Ihr klauen- und reißzahnbewehrtes Äußeres entstand wohl erst, als sie sich genötigt sahen, gegen die Menschen zu kämpfen. Als ihnen ihr Planet nicht ausreichte und sie ihre gierigen Fühler nach der Erde ausstreckten. Wobei das nicht weiter verwunderlich war, nachdem die Menschheit ihren Atommüll entsorgt und damit auf diesem Planeten einen Supergau ausgelöst hatte.

Wie als Antwort auf ihre Gedanken, sahen die Lilim zum Himmel auf. Ein weißes Fluggerät erregte ihre Aufmerksamkeit. Nami staunte nicht schlecht. Der Bewegung des zylindrischen Fluggeräts nach musste es sich um ein äußerst altes Modell handeln. Ein nuklearer Pulsantrieb, der über eine dicke Metallplatte Schub erzeugte, brachte die Sonde ruckartig nach vorne. An ihrer Seite befanden sich Sonnenkollektoren, die wohl die elektrischen Betriebssysteme versorgten. Am meisten erregte sie das Symbol auf dem Korpus. Zwar war es durch die weite Reise nur noch schwer zu erkennen, aber Nami konnte den Baum mit dem Auge darin identifizieren. Das Zeichen der unterirdischen Stadt Edens, der Heimat der Kinder des Ares.

Nami war bewusst, dass der Weltraum schon seit langem von ihnen sondiert wurde. Aber diese Technologie musste sicher tausend Jahre alt sein. Seit 2070 war ein derartiger Antrieb überholt.

Das Szenario veränderte sich: Ein dampfender Regenguss und heftige Windböen brachten den Wald zum Aufstöhnen. Wütende Blitze zuckten vom Himmel, als stünde der Tag des Jüngsten Gerichts bevor. Nami wollte instinktiv den Kopf vor dem Nass schützen, fürchtete, es könnte gar wieder Schwefelsäure sein. Aber die Tropfen prasselten durch sie hindurch, als existiere sie nicht. Wiederum wurde ihr bewusst, dass es sich nur um eine Illusion handelte. Womöglich beobachtete sie sogar ein Geschehen, dass nie stattgefunden hatte. Eine gewaltige Trägerrakete schoss unerwartet vom Himmel herab. Sie war so nahe daran, dass sie sogar durch den Regen das Zeichen Edens darauf erkannte. Die Rakete war derartig gigantisch, dass Nami sich anschickte davonzulaufen. Sie hämmerte sich immer wieder ins Gedächtnis, dass das alles nicht echt war. Gebannt verfolgte sie den Verlauf des Flugkörpers. An ihrer Seite befanden sich Unmengen an Kapseln, die mit dem deutlichen Warnzeichen nuklearer Stoffe versehen waren. Die Flugbahn endete mitten in einem Felsmassiv. Eine Detonation, die alles, was Nami je gesehen hatte übertraf, zerriss den Himmel, breitete sich über die gesamte Landschaft aus und schloss Nami in sich ein.

„Aufwachen! Hören Sie mich?!"

Nami riss die Augen auf. „Die mussten gewusst haben, dass die Rakete hier einschlägt!"

David sah sie verständnislos an. „Wir müssen hier weg – so schnell wie möglich."

Namis Blick huschte über ihre Umgebung. Erst wirkte alles verschwommen und sie rieb sich über die Augen, welche mit einem dickflüssigen Saft verschmiert waren. Dann nahm sie alles wieder scharf war. Es war, als hätte sie die Vision nicht verlassen:

Um sie herum erblühte das Leben, rankten sich Pflanzen in erstaunliche Höhe. Sie befanden sich in einem weitläufigen Hohlraum unter der Erde. Die Wände schienen von selbst zu leuchten. Bei genauerem Hinsehen entdeckte sie winzig kleine Pilze, die Licht abgaben. Furchtvoll griff sie nach ihrem Hinterkopf. Nichts hatte sich dort eingenistet. Sie sank zurück, spürte die fleischige Masse unter sich, die ihren ganzen Körper umgab.

„Nami, jetzt ist nicht die Zeit sich auszuruhen!"

Perplex starrte sie ihn an. „Wie haben Sie mich gerade genannt?!"

Ohne auf eine Antwort zu warten, zog er sie in die Höhe. Sie kam sich ganz leicht vor und stellte entsetzt fest, dass sie nackt war. Einzig die schleimige Masse bedeckte ihre Blöße. Angewidert wollte sie sie schon abwischen. Dann sah sie zu David herüber. Besser nicht.

„Wenn Sie jetzt nicht sofort mitkommen, dann schleife ich Sie hier raus."

Nami schüttelte sich durch, versuchte die Benommenheit loszuwerden und nickte ihm zu. Ohne weitere Umschweife liefen sie los. Sie folgte ihm in der blinden Hoffnung, dass er den Weg wusste.

Die Kinder des AresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt