Kapitel 1

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8 Jahre später (Mandy P.O.V)
»Ist wirklich alles in Ordnung?«, fragte ich meine siebenjährige Tochter Cassie besorgt, während ich ihr dabei zusah, wie sie sich ihre Schuhe zuband. Wehmütig lächelte ich bei der Erinnerung, dass das vor ein paar Jahren noch meine Aufgabe gewesen war. Noch immer konnte ich nicht begreifen, dass sie bereits so groß war. Es kam mir vor, als wäre es gestern gewesen, als ich im Krankenhaus lag und sie das allererste Mal halten durfte. Wie ich ihren kleinen warmen Körper auf meinem spürte, während ich ihrem Herzschlag gelauscht hatte. Eine leichte Gänsehaut überzog mich bei der Erinnerung. Cassie war mein Ein und Alles. »Ja Mama, alles in Ordnung«, sagte sie augenrollend und riss mich somit aus meinen Erinnerungen. Cassie war vorhin, als sie die Treppe runtergestürmt war, gestolpert und hingefallen. Nun waren ihre Knie voller Schürfwunden. »Hör auf dir so viele Sorgen zu machen. Das sind nur ein paar Kratzer.« »Ich habe dir schon öfters gesagt, dass du die Treppe nicht so runterrennen sollst. Siehst du, was passieren kann?« »Ja, dann hättest du mich nicht so hetzen sollen«, gab sie grimmig zurück. Ich seufzte leise auf. »Ist ja gut, wir sind spät dran. Oma wartet schon.« »Du tust so, als wäre das was Neues. Wir wissen beide ganz genau, dass Oma dir 14 Uhr gesagt hat, damit wir dann pünktlich um 15 Uhr da sind. Und du musst auch nicht so tun, als wäre es meine Schuld, dass wir spät dran sind. Du brauchst mal wieder viel zu lange, um dich fertig zu machen«, sagte sie, dieses Mal mit einem schelmischen Lächeln. Mein Mund öffnete sich vor Empörung, schloss schloss sich dann jedoch wieder, da ich wusste, dass sie recht hatte. Ich konnte einfach nie pünktlich sein. Eine Eigenschaft von mir, an der ich bereits seit einigen Jahren arbeitete. »Ist ja gut. Du hast recht. Jetzt beeil dich. Aber deinem Knie geht es gut?«, fragte ich besorgt. Sie rollte erneut mit den Augen. »Ja Mama, es geht mir gut. Ich muss eben nur noch schnell was von oben holen«, sagte sie und lief die Treppe hoch. »Sei vorsichtig beim runtergehen«, rief ich ihr noch hinterher und ging in die Küche, um mir eine Wasserflasche zu holen. Ich öffnete diese, nahm einen Schluck und atmete einmal tief aus, um mich etwas zu beruhigen. Meine Tochter sollte mich so nicht sehen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie wissen wollen würde, wo Brandon blieb. Und ich wusste bis jetzt noch nicht, was ich ihr sagen sollte. 'Bei einer anderen Frau im Bett', wäre wohl kaum akzeptabel angesichts der Tatsache, dass er für sie wie ein Vater war. Wie konnte er mir das nur antun? Nach zwei Jahren. Nach zwei verdammten Jahren! Vor ein paar Tagen hatte ich ihn mit ihr erwischt. Mit niemand anderen als meiner Freundin Lara. Es stellte sich heraus, dass die beiden seit über einem Jahr eine Affäre hatten. Bis vor einer Woche zählte Lara noch zu einer meiner engsten Freundinnen. Anscheinend war sie lange Zeit in Brandon verliebt gewesen, bevor ich ihn überhaupt kennengelernt hatte und war der Annahme, dass ich ihn ihr weggenommen hatte. Meine Hand ballte sich zu einer Faust während ich versuchte, mich nicht meinen Gefühlen hinzugeben. All die Gespräche, die wir geführt hatten. Wie hätte ich auch bemerken sollen, dass sie mich so abgrundtief verachtete?
Du hast mir Brandon weggenommen. Und dafür hasse ich dich. Von der ersten Sekunde an, als ich dich gesehen hatte, wollte ich, dass du leidest. Laras Worte schwirrten mir durch den Kopf, und eine Träne kullerte meine Wange hinunter. Ich hatte bereits mehr als genug gelitten. Wieso kam jetzt noch mehr hinzu? Gerade jetzt, wo alles wieder anfing sich zu stabilisieren. Ich hatte eine eigene Wohnung, eine Handvoll Menschen, die mich nicht völlig vereinsamen ließen, Cassie und Brandon. Wir waren wie eine Familie, hatten Ausflüge geplant und gemeinsame Abende verbracht. Es hatte sich so ... normal angefühlt. Bis Brandon sich für Lara entschieden hatte. Vor lauter Trauer dachte ich an meine Freundin Annie. Sie hätte mir so etwas nie angetan. Acht Jahre war dieser schicksalhafte Tag, der mein Leben verändert hatte, bereits her. Acht Jahre, in denen ich mich nach Normalität in meinem Leben gesehnt hatte; ohne Angst und Panik bei jedem unerwarteten Geräusch. Einer Normalität, bei der ich nicht jedes Jahr meinen Wohnort und meine Identität wechseln musste, damit Malcolm mich nicht fand. Nate trichterte mir ein, dass, wenn in einigen Jahren etwas Gras über die Sache gewachsen war, wir länger an einem Ort bleiben konnten, ich jedoch weiterhin auf der Hut sein musste. Aus diesem Grund hatte ich die ersten Jahre keinen einzigen Menschen an mich herangelassen. Wozu auch, wenn ich diese nach einem Jahr wieder hätte verlassen müssen? Das war nun mal mein Leben, seitdem wir vor acht Jahren dem Zeugenschutzprogramm beigetreten sind. Mein Leben wurde einsam. Mehr als nur einmal hatte ich mich in den Schlaf geweint, da ich nicht wusste, wohin mit mir und meinen Gefühlen. Keiner verstand mich. Was daran lag, dass es niemanden gab, dem ich mich anvertrauen konnte. Ich fiel immer mehr in ein tiefes Loch voll Trauer und Verlorenheit. Selbst wenn ich mich jemanden anvertraut hätte, so klang meine Geschichte doch so ungläubig, dass ich mir nicht einmal sicher war, dass man mir glauben schenken würde. Das Zeugenschutzprogramm kannte man sonst nur aus Actionfilmen, die jedoch nicht annähernd die Realität dieses Lebens einfingen. Keiner Sprach von dem Schmerz, Menschen glücklich und unbefangen zu sehen. Wie sich Freundinnen alles erzählten, während man immer nur stumm dasaß und nichts sagte, um ja nichts Falsches zu sagen; woraufhin man als schüchtern und introvertiert abgestempelt wurde. Das Einzige, was mich bei Sinnen hielt, war Cassie und seit einiger Zeit meine Arbeit als Grundschullehrerin. Das ich einen Abschluss hatte und studieren konnte, war ein großes Wunder. Jedes Jahr hatte ich mein vorheriges Semester von der neuen Universität anerkennen lassen müssen, was nicht überall möglich gewesen war. Vermutlich hatte Nate, als FBI-Agent seine Finger im Spiel gehabt, und ich war ihm unglaublich dankbar dafür, dass er sich Mühe gab, mir ein einigermaßen normales Leben zu ermöglichen. Dennoch hatte ich auch dort keine Menschen an mich herangelassen; aus Angst, Malcolm würde mich finden und diese dann verletzen. Doch in den letzten drei Jahren hier in Fresno hatte sich einiges verändert. Nach einem langen intensiven Gespräch mit Nate, war er der Meinung, dass wir vorerst hier in Fresno bleiben konnten. Ich hatte Brandon kennengelernt und war das erste Mal seit langer Zeit wieder glücklicher in meinem Leben. Brandon hatte mich wieder fühlen lassen. Mir das Gefühl der Normalität gegeben, nach dem ich mich schon so lange sehnte. Er brachte mich zum Lachen, führte mich auf Dates aus, beschenkte mich mit Blumen; ließ mich wieder fühlen. Seine Hand hatte sich nach mir in diesem Schwarzen Loch, in welchem ich mich befunden hatte, ausgestreckt; und ich hatte diese dankend angenommen. Gerade als ich angenommen hatte, dass diese Normalität sich stabilisieren würde, schlug das Leben wieder zu und nahm mir erneut den Boden unter den Füßen. Aber war das nicht immer so? Nach guten Tagen folgten schlechte? Dieser Gedanke stimmte mich unglaublich traurig. Es fiel mir schon immer schwer, irgendwas in meinem Leben zu genießen. Denn insgeheim wartete ich immer auf den nächsten Sturm – der sicherlich kommen würde. Kopfschüttelnd versuchte ich, die Bilder von Brandon und Lara aus meinem Kopf zu verbannen, ehe ich tief durchatmete und ich nach Cassie rief. Mittlerweile waren wir bereits eine volle Stunde zu spät. »Beweg deinen Hintern hier runter. Ich will mir nicht mehr als nötig von Omas Gemecker anhören.« »Ich komme ja schon«, rief sie und kam die Treppe runtergerannt. »Jetzt hör doch mal auf die Treppe runter zu rennen«, schimpfte ich, da ich nicht wollte, dass sie sich wieder verletzte. »Dann hetz mich nicht so«, murmelte sie empört. Sie stand mit ihrem Teddybären, den ich ihr vor Jahren gekauft hatte, vor mir und sah mich mit ihren blauen Augen an. Diese blauen Augen, die mich so sehr an Jason erinnerten, die im Vergleich zu meinen dunklen braunen Augen, heller strahlten als der Himmel. Nur die hellbraunen, beinahe blonden, gewellten Haare hatte sie von mir geerbt. Ein trauriges Lächeln legte sich auf meine Lippen und ich war froh, dass die Stimme meiner Tochter meine Gedanken unterbrach. Nach all dem Drama mit Brandon wollte ich die Gedanken an Jason so weit wie möglich fortschieben. Das wäre mehr Kummer als ich momentan ertragen konnte. Auch wenn es mittlerweile deutlich weniger schmerzhaft war an ihn zu denken als noch vor einigen Jahren, musste das heute nicht unbedingt sein. »Ich bin fertig«, rief sie lächelnd. Schnell schloss ich die Haustüre ab und lief ihr hinterher, bis auch ich das Auto erreichte. Wir setzten uns rein und ich startete den Motor. »Denkst du, Oma wird sehr genervt sein?«, fragte ich meine Tochter, die bloß kicherte. »Natürlich wird sie das. Aber vermutlich nur für ein paar Minuten. Danach wird sie uns beide mit Essen vollstopfen. Ich freue mich schon. Dann gibt es wenigstens mal was anderes zu Essen als Tiefkühlpizza oder Spiegeleier.« Sie grinste frech. »Hey, willst du damit etwa andeuten, dass mein Essen nicht schmeckt?«, spielte ich empört. Sie zuckte mit den Schultern. »Das nicht. Immerhin kann man mit Tiefkühlpizza nicht viel falsch machen...« Ihr Grinsen wurde breiter und ich wusste was sie jetzt sagen würde. »Wenn man denn auf die Zeit achtet und die Pizza nicht verbrennen lässt.« Ich schüttelte belustig den Kopf. Ich liebte es, wie schlagfertig sie manchmal war. »Junges Fräulein, ich habe mich um deine Läuse in deinem Haar gekümmert die du dir sonst wo eingefangen hast.« »Ich habe nicht gesagt, dass du keinen guten Grund hattest. Stell dir einfach nächstes Mal einen Timer oder so. Das Essen was wir bestellt haben war auch ganz gut. Aber es kommt nicht an Omas Essen dran.« Da musste ich ihr leider recht geben. Meine Mutter war eine professionelle Köchin und dementsprechend schmeckte auch ihr Essen; absolut unvergleichbar mit meinem. Gene, die ich leider nicht von ihr geerbt hatte. »Übrigens hat Brandon mir versprochen, dass er mit mir in den Tierpark geht. Können wir das bald machen? Ich möchte so gerne einen echten Pandabären sehen«, rief sie freudig aus und mein Herz stockte für einen kurzen Moment. Ich war noch nicht bereit mit ihr darüber zu reden, dass Brandon nicht mehr wieder kommen würde. Es würde ihr kleines Herz brechen. Dabei hatte ich mir selbst versprochen, alles dafür zu tun, um sie vor diesem Schmerz zu bewahren. Und nun war ich daran schuld, weil ich Brandon, diesen Idioten, in unser Leben gelassen hatte. Nur weil ich mich nach Anerkennung und Liebe gesehnt hatte und Cassie einen Vater geben wollte. Den sie nun verlieren würde. Meine Finger krallten sich ans Lenkrad während ich langsam durch den Mund ausatmete. Alles würde gut werden, versuchte ich mich selbst zu beruhigen. »Wir können gerne, wenn du wieder von Oma zurück bist, in den Tierpark gehen«, schlug ich vor. Mir war bewusst, dass ich es nicht ewig vor mir herschieben konnte. Aber ich war noch nicht so weit. Ich hatte das Gefühl, dass, wenn ich es Cassie erzählen würde, die ganze Geschichte real werden würde. Noch fühlte sich alles wie ein schlechter Albtraum an, aus dem ich noch nicht bereit war aufzuwachen. Aus diesem Grund schickte ich Cassie für ein Wochenende zu meinen Eltern. Brandon wollte vorbeikommen, um seine Sachen aus der Wohnung zu räumen. Eine Situation, die ich Cassie ersparen wollte. Nachdem Brandon endgültig aus meinem Leben verschwunden war, würde ich ein Gespräch mit ihr führen, um ihr schonend beizubringen, dass Brandon nicht wieder kommen würde. Wenn ich mich selbst emotional darauf vorbereitet hätte. Am Haus meiner Eltern angekommen lief Cassie sofort zur Haustür und klingelte. Jonny, mein Neffe, öffnete ihr freudig die Tür und ließ eine ebenso freudenstrahlende Cassie ins Haus. Meine Mutter stand mit verschränkten Armen im Flur und musterte mich mit einem genervten Blick, sobald ich die Wohnung betrat. »Junge Dame! Ich habe dir extra gesagt, eine Stunde eher hier zu sein und du kommst trotzdem eine Stunde zu spät.« »Tut mir leid Mama«, sagte ich schief lächelnd und fuhr mir durch meine braunen Haare. Ich wusste, dass sie mir nicht lange böse sein würde. »Jetzt ist das ganze Essen kalt geworden«, schimpfte sie, nahm mich dennoch liebevoll in den Arm. »Deswegen besitzt du doch eine Mikrowelle, nur wegen unserer Kimmy, die immer zu spät kommt«, sagte mein Bruder und kam lachend aus der Küche mit einem Handtuch in der Hand heraus. »Connor«, rief ich freudig aus und lief auf meinen drei Jahre älteren Bruder zu, um ihn zu umarmen und ignorierte, dass er mich Kimmy genannt hatte. Ich hasste es so genannt zu werden. Kimberley Wilson. So nannte man mich hier in Fresno. Der Name, den ich im Zeugenschutzprogramm erhalten hatte. »Hey, nicht so stürmisch«, lachte er. »Was machst du hier?«, fragte ich verwirrt. Dass Jonny hier war, war mir bewusst, Connor hatte ich hier jedoch nicht erwartet. »Naomi und ich haben spontan entschlossen mit Jonny in den nächsten Tagen in den Urlaub zu fahren, weshalb ich ihn bereits heute abhole.«
»Ist Naomi auch hier? «, fragte ich hoffnungsvoll. »Nein leider nicht, sie musste heute doch arbeiten. Aber ich soll dir schöne Grüße ausrichten. Ruf sie doch bald mal an, dass ihr beide etwas zusammen unternehmt.« »Das werde ich bestimmt in den nächsten Tagen machen«, nahm ich mir freudig vor. Naomi war eine Freundin von mir, die ich mit Connor verkuppelt hatte. Sie passte viel besser zu ihm als Johanna, seine Ex. Meiner Meinung nach, war sie ein totaler Psycho. Sie war unglaublich toxisch. Drei Jahre war sie mit Connor zusammen gewesen, bis er all seinen Mut zusammengenommen hatte und ihr von seiner Vergangenheit erzählt hatte. Meiner Meinung nach, war dies total dämlich von ihm. Nicht dass er ihr es erzählt hatte, sondern dass er solange damit gewartet hatte. Wenn er es ihr erzählen wollte, dann direkt am Anfang oder gar nicht. Beispielsweise hatte ich beschlossen Brandon nichts von meiner Vergangenheit zu erzählen. Selbst nach acht Jahren war ich immer noch nicht bereit darüber zu reden. Meine Mutter und auch Connor hatten mich zu einem Therapeuten geschleppt. Connor selbst war auch in Behandlung und meinte, es hätte ihm sehr geholfen. Mir hatte dies jedoch nichts gebracht. Alles, was ich tun konnte, war stumm in dem Raum zu sitzen und einen Fremden anzuschweigen, welcher mir Fragen über Fragen stellte. Fragen, auf die ich keine Antworten hatte. Bis heute nicht. Mir war klar, dass ich mich öffnen sollte. Aber das bedeutete, dass ich all diesen emotionalen Schmerz noch einmal erleben musste. Mir war es lieber, ihn in die hinterste Ecke meines Gedächtnisses zu verbannen und nie wieder auszugraben. Connor hingegen blühte danach wieder vollends auf. Jedoch war er in einer etwas anderen Situation als ich. Connor kannte nicht einmal die ganze Geschichte. Er hatte nicht gesehen, was ich gesehen hatte. Er hatte nie in Malcom Lightwoods hasserfüllte Augen sehen müssen. Er hatte nicht Annies Schreie hören müssen, während sie ihn anflehte aufzuhören. Sein höhnisches Lachen während er Annie quälte, nur um dann irgendwann einen Schuss zu hören mit der Erkenntnis, dass ich meine beste Freundin nie wieder sehen würde. Obwohl er dies alles nicht erlebt hatte, war die ganze Situation für ihn ebenfalls dramatisch. Connor hatte alles aufgeben müssen. Seine Freunde. Sein Leben. Und dann auch noch Johanna, die, wie auch nicht anders zu erwarten, dass gar nicht toll fand und abgehauen war. Sie hatte mitten in der Nacht ihre Koffer gepackt und war auf und davon. Jonny, der damals ein Jahr alt gewesen war, hatte sie bei Connor gelassen, da sie, wie sie in ihrem Brief schrieb, nicht in der Lage wäre, sich allein um ein Kind zu kümmern. Nach diesem Vorfall hatte ich einen heftigen Streit mit Connor, da ich nicht verstehen konnte, wie er ihr all das anvertrauen konnte. Denn je mehr Menschen davon wussten, umso größer wurde die Gefahr, an einem Ort zu bleiben. Connor war nicht in der zwingenden Situation, dass er den Wohnort wechseln musste, jedoch war er immer mit uns mitgekommen. Bis er Naomi vor zwei Jahren kennengelernt hatte und mit ihr nach Sacramento gezogen war. Naomi passte so viel besser zu ihm. Sie kam super mit Jonny klar, der mittlerweile sechs Jahre alt war. Mit Jonny hatte Cassie auch immer einen Spielkameraden, egal wo wir hinzogen. Zumindest in den ersten Jahren, wobei Sacramento mit seinen zwei Stunden noch nah genug war, dass wir Connor und Jonny noch oft genug zu sehen bekamen. Mein Bruder kam manchmal an Wochenenden oder Ferien vorbei und ließ Jonny bei meinen Eltern oder bei mir. Seit Cassie geboren wurde, waren wir mittlerweile viermal ans andere Ende des Landes gezogen. Ich hoffte inständig, dass wir hier etwas bleiben konnten, damit Cassie für einen längeren Zeitraum in dieselbe Schule gehen konnte. »Nun setzt dich in die Küche Kind«, unterbrach mich meine Mutter aus meinen Gedanken und schob mich in ihre neu tapezierte Küche. »Ich habe Kartoffelauflauf gekocht und Brownies gebacken. Möchtest du welche?« Grinsend nippte ich an meinem Kaffee, den mein Vater mir bereits auf den Platz gestellt hatte. »Wenn du sie dieses Mal selber gemacht hast und nicht an einem dubiosen Stand am Straßenrand gekauft hast«, sagte ich lachend und spielte auf ein Ereignis von vor einigen Monaten zurück, als meine Mutter unabsichtlich Hasch Brownies gekauft hatte. Meine Mutter lachte und verdrehte die Augen. »Du kannst nicht abstreiten, dass du Spaß hattest mir und deinem Vater zu zusehen.« Das hatte ich tatsächlich. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass ihr mir damals nichts übriggelassen habt.« »Und ich bin jeden Tag dankbar, dass dein Vater und ich alle aufgegessen haben, statt dir etwas anzubieten.« Nun war ich an der Reihe, belustigt den Kopf zu schütteln. Bei den Gedanken an meine Eltern völlig verwirrt und verpeilt im Wohnzimmer konnte ich nicht anders als zu lachen. »Ich hätte auch super gerne was von den Brownies abbekommen«, mischte sich nun Connor in unser Gespräch ein. »Wo genau hast du die noch einmal gekauft?« »Wag es ja nicht. Lasst bloß die Finger von dem Zeug«, sagte meine Mutter mit gespielt strenger Miene und warf ein Handtuch nach Connor. »Ich habe letztens irgendwo gelesen, dass es sogar ganz gesund sein soll«, sagte ich, während meine Mutter nun auch mich mit einem Handtuch abwarf. »Mir egal. Lasst bloß die Finger davon.« Sie stellte mir einen Teller von ihrem selbst gebackenen Brownie vor meine Nase, von welchem ich mir genüsslich ein Stück in meinen Mund schob. Genüsslich seufzte ich auf. Ich hatte ganz vergessen, wie gut es bei meiner Mama immer schmeckte. »Wann kommt Brandon um seine Sachen abholen? «, fragte mich mein Vater mit einem ersten Ton. Er zog seine linke Augenbraue in die Höhe, woraufhin sich leichte Falten auf seiner Stirn bildeten. Sein mittlerweile grau gesträhntes Haar hatte er sich nach hinten gegelt. Mit seinem Blick musterte er mich eindringlich, was mich etwas in tiefer in meinen Stuhl sinken ließ. Er hatte Brandon nie wirklich leiden können. Keiner aus meiner Familie hatte das. Mittlerweile wünschte ich mir, ich hätte damals auf sie gehört. Aber nein, ich wusste es ja besser und hatte meine rosarote Brille an, welche mir nun mit voller Wucht runtergerissen wurde. »Endlich bist du den Kerl los«, bestätigte Connor meine Gedanken und schob sich ebenfalls ein Brownie-Stück in den Mund. »Ich konnte ihn nie leiden.«

»Er kommt morgen, um seine Sachen zu holen. Danke, dass Cassie für ein paar Tage hierbleiben kann. Ich habe noch nicht ganz überdacht, wie ich das Cassie beibringen soll. Sie hängt sehr an Brandon.« Er war wie ein Vater für sie. Es würde ihr das Herz brechen. »Außerdem brauche ich Zeit für mich, um das zu verarbeiten. Und das kann ich nicht, wenn Cassie jeden Tag nach Brandon fragt.« Meine Mutter lächelte schwach. Sie legte mir liebevoll die Hand auf die Schulter und sah mich mitleidig an. »Mach dir um Cassie keine Sorgen. Sie ist hier gut aufgehoben. Vielleicht kann dein Vater mit ihr in ein Jumphouse gehen?« Sie warf meinem Vater einen belustigten Blick zu, der sich gerade ein Stück Brownie in seinen Mund schaufelte. »Etwas Sport würde ihm nicht Schaden.« Mein Vater hob eine Augenbraue in die Höhe und lachte gespielt empört auf. »Hey, du hast gesagt du magst mich so wie ich bin. Wie war das noch gleich? Mein Bauch ist so kuschelig wie ein Kissen? Von liebenswerten Menschen braucht man halt etwas mehr?«
»Jaja, vermutlich war ich da immer noch High von den Brownies«, konterte meine Mutter. »Du hast mir das erst vor ein paar Tagen gesagt. Hast du etwa neue Brownies gekauft? Und dann ohne mich gegessen?« Meine Mutter schüttelte belustigt den Kopf während sie aufstand um neues Wasser für ihren Tee aufzukochen. Amüsiert sah ich zwischen meinen Eltern hin und her. Von der angespannten Stimmung die das Thema Brandon über diese Küche gelegt hatte war nichts mehr zu erkennen. Der Anblick meiner Eltern die nach so vielen Jahren noch so verspielt und gelassen miteinander umgingen ließ mich leicht aufseufzten. Wieso schien das bei ihnen so einfach, während bei mir alles so kompliziert war? 

Don't break me againWo Geschichten leben. Entdecke jetzt