4 - Licht im Fenster

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Ich verbrachte den Rest des Nachmittags damit, nach Hause zu fahren und meine Sachen zu packen. Nicht dass ich irgendwelche spezifische Ausrüstung besaß, um Geister zu jagen. Das war tatsächlich nie mein Berufswunsch gewesen. Aber ich benötigte Kleider und eine Zahnbürste, wenn ich mich für die kommenden zehn Tage in Corbières einrichten wollte.

Die Küchenuhr in unserem Appartement zeigte fünf vor vier, als ich an der Spüle ein Glas Wasser hinunterstürzte. Celine war natürlich noch bei der Arbeit, und ich war erleichtert, dass sie mich gerade nicht mit Fragen löchern konnte. Stattdessen würde ich ihr einen Zettel mit einer gekritzelten Nachricht auf dem Küchentisch hinterlassen.

Hey C, nehme den Job an und werde mich für zehn Tage dort einquartieren. Ich ruf dich an, sobald ich kann, S.

Sie würde sich vor Neugier vermutlich fast in die Hose machen, aber das geschah ihr recht für den Druck, den sie wegen des Jobs auf mich ausgeübt hatte. Ich plante, sie abends anrufen, wenn mir danach war. Oder morgen. Es konnte ihr nicht schaden, wenn ich sie etwas im eigenen Saft schmoren ließ.

Die  Schadenfreude gab mir den Energieschub, um in Rekordzeit meinen kleinen Rucksack und eine Reisetasche mit Sommerkleidung vollzustopfen. Ich fügte ein paar Sportschuhe und Flipflops hinzu, meine Zahnbürste und andere persönliche Effekten. Glücklicherweise fiel mir rechtzeitig noch ein, dass ich auch das Ladegerät für mein Telefon benötigte. Ich holte es von meinem Arbeitstisch. Dabei fiel mein Blick auf die Halskette mit Großmutter Elises Anhänger, die von meiner Schreibtischlampe baumelte. Der glattgeschliffene Stein fühlte sich warm in meiner Hand an, und kurzentschlossen legte ich mir das Schmuckstück um. Irgendwie schien es angebracht, das Erbstück meiner spirituell begabten Vorfahrin für diese Mission zu tragen.

Eine halbe Stunde später war ich wieder auf der Autobahn unterwegs Richtung Corbières. Ich genoss den Fahrtwind, der mir eine angenehme Illusion der Kühle vermittelte. Jetzt, da meine Entscheidung gefällt und der Vertrag unterzeichnet waren, beruhigte sich endlich auch mein aufgebrachter Magen, und ich konnte mir kaum mehr vorstellen, warum ich ursprünglich so nervös gewesen war. Das Schlimmste, was mir passieren konnte, war, dass ich einen bezahlten Urlaub in interessanter Gesellschaft in einem hübschen Schloss am See verbrachte. Wobei ich mir insgeheim eingestand, dass sich die Bezeichnung interessant vorwiegend auf meinen neuen Partner Theo bezog.

Ich verließ die Autobahn und überquerte bald darauf die Brücke, von der aus ich einen weiteren Blick auf die trockenliegenden Uferhänge und den geschrumpften Greyerzersee erhaschen konnte. Gespannte Erwartung ersetzte meine vorherige Besorgnis.

Zurück beim Schloss brachte ich mein Motorrad in den Hof. Louis hatte mir erlaubt, es in den ehemaligen Stallungen unterzustellen, die heute als Garage dienten. Ich fand einen passenden Platz neben einem zitronengelben Citroën 2CV. Es handelte sich um einen liebevoll und mit einem ausgezeichneten Auge fürs Detail restaurierten Wagen. Mit den Fingerspitzen berühren ich die polierte Karosserie und schüttelte beinahe ungläubig den Kopf. Während dieses Kleinod durchaus zu Louis' Hippie-Styl passte, überraschte mich, wie gut er zu seinem Baby Sorge trug. Irgendwie war er mir gleich etwas sympathischer.

Ich schulterte meine Tasche, schloss das Garagentor hinter mir und holte bei der schüchternen Studentin an der Rezeption meinen Zimmerschlüssel. Sie erinnerte mich irgendwie an ein Mäuschen. Dann machte ich mich auf die Suche nach Raum 47.

Nachdem ich mehrere Treppenfluchten hochgestiegen war, die zunächst aus kühlem Stein und später aus knirschendem Holz bestanden, erreichte ich den früheren Estrich unter dem enormen Walmdach. Mehrere in den Dachstock eingebaute Räume waren über einen langen Korridor zugänglich. Nummer 47 befand sich ganz am Ende. Zu meiner Überraschung war das Zimmer klein, aber gemütlich. Die weiß gekalkten Wände kontrastierten mit den altersdunklen Dachbalken. Abgesehen von einem kleinen Badezimmer mit Dusche und Toilette enthielt der Raum ein modernes Etagenbett und einen farbenfrohen Flickenteppich. Die beiden Einrichtungsgegenstände kontrastierten mit einem polierten Ahorn-Arbeitstisch und zwei gepolsterten antike Sesseln. Seltsamerweise wirkte die Mischung von Alt und neu nicht abstoßend. Einzig die drückende Hitze schien mir ein Nachteil dieser Unterkunft zu sein.

Der Erbe des Raben | Wattys 2022 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt