20 - Gewittersturm

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Als wir den Aussichtspunkt auf der Schlossterrasse erreichten, zeichnete sich der Umriss des Hauses am See als schwarze Silhouette gegen das vom Mondlicht beleuchtete Wasser ab. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, mehr Details zu erkennen. Schließlich gelang es mir, das flackernde Licht im Fenster auszumachen. Aber Theos Geist war nirgends zu erkennen. „Schade, dass du dein Teleobjektiv nicht mitgebracht hast. Damit könnten wir ihn von hier oben bestimmt sehen."

„Das habe ich auch gerade gedacht." Matt beugte sich über die Terrassenbrüstung. „Aber wenn ich es jetzt holen gehe, würde ich wohl unseren Partner verpassen. Und ich möchte mich gerne verabschieden, wenn es denn nicht schon zu spät ist."

„Wofür zu spät?" Theos sanfte Stimme sandte einen Schauer mein Rückgrat hinunter und ließ mich herumwirbeln. Er stand nur zwei Schritte hinter uns, aber bevor ich mich darüber beschweren konnte, dass er mich erschreckt hatte, schaukelte er leicht in einem Windstoß. Erst da bemerkte ich, dass seine Füße den Boden nicht mehr berührten und dass ich durch seine Erscheinung hindurch die mondbeschienenen Mauern des Schlosses erkennen konnte.

Matt fröstelte. „Zu spät um mich von dir zu verabschieden, du Depp. Ich bezweifle, dass wir dich nach der Vereinigung mit deiner Liebsten noch einmal zu Gesicht bekommen."

Der Geist runzelte die Stirn und schwebte näher zur Brüstung. „Damit hast du wohl recht, Matt, mein Schicksal liegt da unten. Und außerdem—"

Er unterbrach sich mitten im Satz und wandte sich uns zu, plötzlich wieder viel körperhafter und viel näher bei dem Theo, den wir kennengelernt hatten. „Bevor ich gehe, möchte ich mich bei euch beiden für eure Freundschaft und eure Unterstützung in diesen letzten Tagen bedanken. Passt aufeinander auf — und genießt ein langes und erfülltes Leben."

Ich fühlte ein ätzendes Brennen in den Augen und war versucht, ihn zum Abschied in die Arme zu schließen. Als mir aber der Elektroschock einfiel, den mir die letzte Berührung verpasst hatte, hielt ich mich zurück. Auf ein weiteres solches Erlebnis konnte ich gerne verzichten. Deshalb kreuzte ich meine Arme, um mein Zittern zu unterdrücken. „Ich wünsche dir und Lorraine alles Gute. Und natürlich eurem Sohn. Du solltest die beiden nicht mehr zu lange warten lassen."

Er nickte. „Nein, dieses Mal werde ich sie nicht warten lassen. Alles Gute Sandrine. Halt die Ohren steif, Matt."

Matt rieb sich mit der Hand die Augen. „Du auch. Und danke für alles, es hat Spass gemacht, mit dir zu arbeiten."

Mit einem traurigen Lächeln wandte Theo sich ab, schwebte über die Terrassenmauer und weiter den Hang hinunter. Dabei wurde er zusehends körperloser und durchsichtiger. Matt und ich standen an der Brüstung und blickten ihm nach.

Da erreichte uns durch die Stille der Nacht vom See her eine entfernte Stimme, die ein sanftes Lied sang. Die Melodie war einfach, wunderschön und unendlich traurig. Ich konnten die Worte nicht verstehen, aber das Lied berührte mein Herz.

„Lorraines Wiegenlied." Matt setzte sich auf die Brüstung und ich tat es ihm gleich, gefangen in der überirdischen Schönheit des Gesangs. Halbwegs den Hang hinunter hielt Theo an, wohl ebenfalls, um dem Lied zu lauschen. Dann setzte er seinen Abstieg fort, immer schneller, in Richtung des Hauses am See. Irgendwo über uns in der Dunkelheit krähte ein Rabe.

Ich blickte zu den zerfledderten Wolkenfetzen auf, die von einem kräftigen Westwind über den Himmel gehetzt wurden. Ein Schwarm zerzauster schwarzer Vögeln kreiste im silbernen Mondlicht und tanzte in einer enger werdenden Spirale über Theos bleicher Gestalt, die nun das alte Gebäude erreichte. Als er neben dem erleuchteten Fenster innehielt, stockte der Gesang und verstummte, um gleich darauf von einem Freudenschrei ersetzt zu werden. Sobald dieser abbrach, glaubte ich, ganz leise auch das gurgelnde Lachen eines Babys zu hören.

Der Erbe des Raben | Wattys 2022 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt