Lou saß an seinem Schreibtisch, beinahe in der gleichen Position wie damals, als wir uns das erste Mal in seinem Büro trafen. Die augenfälligsten Unterschiede waren der fehlende Bart und die Farbe seines T-Shirts. Heute war es marineblau. Er sah umwerfend aus und sein Lächeln sandte einen angenehmen Schauer mein Rückgrat hinunter.
„Ah, da seid ihr ja. Ich dachte schon, ihr wollt auf den Lohn für eure Arbeit verzichten." Sein Blinzeln verriet mir, dass er bester Laune und zum Scherzen aufgelegt war. Er stand denn auch gleich auf, um drei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Das war ein weiteres Zeichen, wie sehr sich unsere Beziehung geändert hatte. Vor zwei Wochen hätte er noch fragen müssen, was wir trinken wollten. Und vermutlich hätten wir beide Wasser verlangt.
Mister Mortimer rollte sich auf dem Sofa zusammen, während Lou die Flaschen verteilte. Dann drückte er uns je einen Umschlag in die Hand. Ich öffnete meinen und schnappte nach Luft. „Das ist viel mehr, als wir vereinbart hatten."
Er zuckte die Schultern. „Ich habe Theos Anteil auf euch beide aufgeteilt. Ich bin sicher, dass er das so gewollt hätte."
„Herzlichen Dank, an euch beide." Matt hob seine Flasche. „Auf unseren abwesenden Freund."
Wir stießen schweigend an. Aber nach einem kurzen Moment der Stille konnte ich mit den Neuigkeiten, die in meinen Gedanken brodelten, nicht mehr zurückhalten. „Matt schlägt vor, dass wir ein eigenes Büro gründen und uns auf paranormale Erscheinungen spezialisieren. Also, darauf, den Erscheinungen auf den Grund zu gehen. Ritter Guillaume hat bereits angeboten, uns als Berater zur Seite zu stehen. Er meint, wir wären gut darin, verlorene Geister ihrer Bestimmung zuzuführen."
Lous Augenbrauen hoben sich, als er von mir zu Matt blickte. Dieser hatte sich vorgelehnt, die Flasche mit beiden Händen umfasst. Er schien genauso gespannt auf die Meinung unseres ersten Kunden wie ich.
„Nun, das müsst wohl ihr beide entscheiden, zusammen mit eurem zukünftigen Berater. Aber mir scheint das eine recht gute Idee. Ihr könnt euch auf eine Fünf-Sterne-Bewertung von mit als zufriedenem Auftraggeber verlassen."
„Du findest die Idee gut?" Ich tauschte einen Blick mit Mister Mortimer. Wie so oft schien mir der Kater das einzige vernunftbegabte Wesen im Raum. Aber er sah mich bloß mit seinen Bernsteinaugen an und vergrub anschließend desinteressiert die Nase in seinem buschigen Schwanz.
„Klar finde ich das gut." Lou lachte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Sowieso wenn das bedeutet, dass du noch etwas länger hier bleibst und vielleicht sogar den Katalog der Bibliothek beendest."
„Das mache ich ganz bestimmt, wenn du einverstanden bist." War heute mein Geburtstag?
„Perfekt. Die Bibliothek eilt ja nicht. Vielleicht kannst du den Katalog fertig machen, während ihr eure Geister-Garde aufbaut."
Matt klatschte in die Hände. „Geister-Garde. Das ist es, wonach ich die ganze Zeit gesucht habe. Toller Name, damit können wir—"
Das Summen seines Telefons unterbrach seinen Begeisterungssturm. Er holte das Smartphone hervor und starrte mit gerunzelter Stirn auf den Bildschirm. „Meine Mutter." Er seufzte, seine aufgekratzte Stimmung wie weggeblasen. „Es sieht aus, als hätte Vater wieder eine seiner Krisen. Ich muss mal los und ihr helfen, ihn zu beruhigen. Kann ich morgen Nachmittag vorbeikommen, um den Gedanken weiter zu spinnen? Ich möchte möglichst rasch loslegen."
Ich schüttelte den Kopf, spürte aber, dass mein Widerstand nur noch formal und rasch am Schwinden war. An seiner Stelle machte sich ein erwartungsvolles Kribbeln breit. Deshalb hielt ich inne und lächelte. „Also gut. Ich werde aber nochmal darüber schlafen. Und bestimmt hat auch Ritter Guillaume noch seinen Senf beizutragen. Wir sehen uns morgen. Gute Fahrt."
Matt verabschiedete sich mit leuchtenden Augen und einem Gesichtsausdruck, als hätte er gerade ein riesiges Weihnachtsgeschenk erhalten. Lous Lächeln machte einen rundweg zufriedenen Eindruck. „Wenn Guillaume mit von der Partie ist, habe ich vielleicht Glück und er lässt sich von dir irgendwann doch überreden, die Gäste des Schlosses zu unterhalten."
„Wer weiß. Der Ritter hat einen eigenwilligen Kopf, aber ich denke, er genießt die Aufmerksamkeit. Deshalb ist nicht auszuschließen, dass er zu einigen Mitternachtsspuks bereit ist."
Lou nickte. „Wir werden es langsam angehen müssen und herausfinden, was ihm Spaß macht und die Gäste nicht zu sehr verschreckt. Ich finde es auf jeden Fall gut, dass du weiter mit Geistern arbeiten willst. Du bist ein Naturtalent, es wäre schade, diese Gabe verkümmern zu lassen."
„Das behaupten Matt und Guillaume ebenfalls. Dabei wollte ich genau das ein Leben lang vermeiden. Wenn ich nicht wirklich verzweifelt gewesen wäre, hätte ich niemals auf deine Annonce geantwortet." Ich seufzte. „Ich glaube, ich brauche etwas frische Luft, um mir diese Sache durch den Kopf gehen zu lassen."
Er betrachtete sein halb-volles Bier. „Ich komme mit, wenn es dich nicht stört. Gehen wir auf die Terrasse?"
„Einverstanden. Wir können die Flaschen ja mitnehmen." Ich zwängte den Umschlag mit meinem Lohn in die Gesäßtasche meiner Jeans. Zumindest für den Moment war ich meine finanziellen Sorgen los.
Der Regen hatte etwas nachgelassen, prasselte aber immer noch auf den Kiesweg, als wolle die Sintflut niemals enden. Die Tropfen verursachten kreisförmige Riffeln in den zahllosen schwarzen Pfützen. Lou öffnete einen riesigen regenbogenfarbenen Schirm unter dem wir beide gut geschützt dem Pfad zur Terrasse folgten. Meine Flipflops und die Säume meine Hose waren in kürzester Zeit klatschnass, aber das war mir egal. Die frische Luft und die Begleitung waren genug, um meine düstere Stimmung endgültig zu heben.
Wir stoppten an der Brüstung und blickten zum See hinunter, zu der Stelle, wo das Schicksal vor vielen Jahrzehnten so unendlich tragisch zugeschlagen hatte. Inzwischen war nur noch der Giebel von Lorraines Haus sichtbar. Vermutlich würde er bereits morgen vollständig in den Fluten versunken sein.
Ich trank einen Schluck und wurde mir der angenehm warmen Ausstrahlung von Lou an meiner Seite bewusst. „Sie werden bestimmt bald vergessen sein, aber ich hoffe wirklich, dass Lorraine, Theo und ihr Sohn nun endlich Ruhe finden."
„Ich bin sicher, dass sie das bereits getan haben. Wir haben seit einer Woche nicht einen einzigen Raben zu Gesicht bekommen. Beziehungsweise seine Präsenz wahrgenommen, du weißt, was ich meine." Er leerte seine Flasche, stellte sie auf die Brüstung und legte mir einen Arm um die Schultern. „Mögen sie in Frieden ruhen, auch die Raben. Ich werde ihre Heimsuchungen bestimmt nicht vermissen."
Ich lehnte meine Kopf gegen seine Schulter und überlegte, ob ich ihm von meinen Bedenken wegen der Vögel erzählen sollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie ganz verschwunden waren. Immerhin waren es die Wappentiere von Corbières. Aber ich wollte die Stimmung nicht verderben. Vielleicht hatte ich ja unrecht und die Raben waren tatsächlich weg. Ich legte meine Hand auf Lous und liess meinen Daumen über seinen Handrücken wandern. Das fühlte sich sehr gut an.
Ein kräftiger Windstoß ließ mich frösteln und er zog mich näher zu sich heran. „Lass uns was zu essen finden, was meinst du? Ich habe Hunger."
„Klar, was steht denn heute auf dem Menu?"
„Hm. Wie wäre es mit Quiche Lorraine?"
Ich wollte gerade losprusten, aber bevor ich dazu kam, verschlossen seine weichen Lippen die meinen.
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Der Erbe des Raben | Wattys 2022 Gewinner
ParanormalSandrine nimmt widerwillig den Job als Geisterjägerin im Schloss von Corbières an. Zusammen mit dem geheimnisvollen Theo und dem etwas tollpatschigen Matt soll sie die Gespensterraben vertreiben, welche den Touristen den Aufenthalt im Schloss vermie...