17 - Lorraine

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„Lorraine?" Ich studierte Theos blasses Gesicht. „Kann das der Name der Frau in der Hütte und auf Matts Aufnahme sein?" In diesem Moment schien mir das die einzige plausible Erklärung. Es musste irgend einen Zusammenhang zwischen all diesen wild durcheinander gewirbelten Puzzleteilen geben, ich musste ihn nur finden.

Theos Augen glühten in den letzten Strahlen, welche die Sonne über den See sandte. Für einen winzigen Moment erwartete ich, dass sie aus eigener Energie aufleuchten würden. Dann blinzelte er, und einige Tränen glitzerten in seinen Wimpern. „Das ist möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich. Dieses Haus hat mich angezogen, seit ich hierher angekommen bin."

„Und — weißt du auch, woher du gekommen bist? Ich meine, wo warst du, bevor du nach Corbières gereist bist?"

Er blickte in die Sonne. „Tut mir leid, San, ich habe immer noch nicht die geringste Ahnung. Mein Erinnerungsvermögen wird stündlich besser, aber es ist noch nicht annähernd perfekt."

„Ich wünschte ich könnte dich unterstützen. Aber ich habe nicht die leisere Vorstellung, was dir wirklich helfen könnte."

Er nickte. „Ich weiß. Aber es ist für mich schon hilfreich, mit dir zu sprechen. Es verankert mich in der Gegenwart. Du hast eine sehr besondere Gabe, Sandrine. Ich bezweifle, dass es viele Lebende gibt, die völlig ohne Vorurteile mit den Verstorbenen kommunizieren."

Meine Hand fand den Anhänger von Oma Elise, und eine warme Welle des Selbstvertrauens flutete durch meine Adern. „Meine Großmutter war bekannt als eine sogenannte Weise Frau. Sie verstarb zu früh, um mir viel von ihrem Wissen mit auf den Weg zu geben. Aber ich erinnere mich sehr gut an ihre eiserne Regel, voreilige Schlussfolgerungen in jedem Fall zu vermeiden."

„Das klingt, als hätte sich deine Oma den Namen einer Weisen Frau verdient. Hat sie dir zufällig irgendwelche Weisheiten und Anleitungen für orientierungslose Geister auf der Suche nach ihrer wahren Bestimmung hinterlassen?"

„Nicht, dass ich mich daran erinnern kann." Ich lächelte, während ich meine Beine über die Brüstung schwang und die orangen Schattierungen des Himmels im Westen zu bewundern. Das Schauspiel hatte eine beruhigende Wirkung auf meine turbulenten Gedanken. „Aber ich hatte auch nie vor, in Großmama Elises Fußstapfen zu treten und mit Geistern zu kommunizieren. Es ist also möglich, dass ich die eine oder andere unentbehrliche Lektion verpasst oder vergessen habe."

Er lachte, und der liebenswerte Klang vertrieb einen Teil der Anspannung aus meinen verknoteten Nackenmuskeln. Wir saßen schweigend nebeneinander während der Himmel sich von orange zu Indigo verfärbte und der Vollmond über die Hügel im Osten kletterte. Theo drehte den Kopf, um ihn aufsteigen zu sehen, und zum ersten Mal wirkte seine Haut nicht mehr wächsern sondern beinahe durchsichtig, ähnlich wie jene von Ritter Guillaume. „Danke, dass du bist, wie du bist, San, das ist genug. Wenn es dir nichts ausmacht, gehe ich nun etwas spazieren und versuche, mich an einige weitere Dinge und Zusammenhänge zu erinnern. Gute Nacht und bis morgen."

„Gute Nacht, Theo, pass auf dich auf."

Sobald er gegangen war, schien mir die Luft deutlich wärmer, schon fast wieder schwül. Trotzdem fröstelte ich in der Erinnerung an unser Gespräch. Es war noch zu früh, um ins Bett zu gehen, und meine Gedanken drehten sich immer noch um das, was ich heute erfahren hatte. Deshalb kehrte ich in die Bibliothek zurück.

Zum ersten Mal hatte ich den gemütlichen Raum für mich ganz allein. Ich genoss die Gelegenheit, entlang der Gestelle zu gehen, durch die großformatigen Fotobände zu blättern und mir die Biographien und die alten, naturwissenschaftlichen Wälzer mit Ledereinband anzusehen. Mein Bibliothekarinnen-Herz schlug höher im Angesicht der Kostbarkeiten, die frühere Schlossbesitzer hier über die Jahrhunderte angesammelt haben mussten. Ich war froh, dass Lou diese Sammlung genügend schätzte, um sie zugänglich zu behalten. Das einzige, was mir fehlte, war ein systematischer Katalog. Vielleicht konnte ich ihn davon überzeugen, mich dafür zu bezahlen, einen aufzunehmen. Ich nahm mir vor, ihn danach zu fragen, sobald wir unseren Auftrag hier erfüllt hatten.

Der Erbe des Raben | Wattys 2022 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt